Versuch – Überblick Fallbearbeitung

Ein Überblick über die Fallbearbeitung Versuch im Strafrecht. Hilfreiche Hinweise und Tipps für die Klausur anhand von Fallbeispielen.

Datum
Rechtsgebiet Strafrecht
Ø Lesezeit 15 Minuten
Foto: Hunter Bliss Images/Shutterstock.com

Der Versuch nach §§ 22, 23 StGB hat eine überragende Stellung im Allgemeinen Teil des Strafrechtgesetzbuchs. Sowohl in der Praxis als auch in Klausuren vom ersten Semester bis zum Staatsexamen spielt er eine große Rolle.

I. Einführung

1.) Bevor die eigentliche Prüfung beginnt, sollte man zunächst (zumindest gedanklich) überprüfen, ob überhaupt eine Versuchsstrafbarkeit rechtlich vorgesehen ist. Dafür knüpft man an die §§ 23 I, 12  StGB an. Der Versuch eines Verbrechens – sofern im Mindestmaß eine Freiheitsstrafe von einem Jahr angeordnet wird – ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn dies explizit normiert wird. Daneben ist zu beachten, dass die Versuchsstrafbarkeit materiell subsidiär zur vollendeten Tat ist, sodass letztere zwingend zuerst untersucht werden muss. Die rechtsethische Begründung, die durchaus auch in einem Nebensatz erwähnt werden darf, ist darin zu erblicken, dass der Täter in diesen Fällen einen rechtsfeindlichen Willen betätigt, wodurch die Rechtsgemeinschaft erschüttert wird.

Jura-Individuell Tipp: Die Strafbarkeit aus vollendetem Delikt scheidet nicht nur dann aus, wenn objektiv der Erfolg ausblieb. Denkbar sind auch Konstellationen, in denen der Erfolg zwar eintrat, dieser aber dem Täter nicht zugerechnet werden kann oder aber auch in denen der Täter nur objektiv, hingegen nicht subjektiv (mangels Kenntnis) gerechtfertigt ist. In allen drei Fallgruppen darf man die Versuchsstrafbarkeit nicht übersehen. Eine fahrlässige Straftat (beispielsweise § 229 StGB) kann man niemals versuchen.

2.) Im Kontext des Versuchs beginnt man mit dem subjektiven Tatbestand, dem sogenannten Tatentschluss. Eine Missachtung dieser Aufbauregel ist ein schwerer Fehler und kann bereits allein aus diesem Grund zu einer mangelhaften Bewertung führen. Konsequenz eines derartigen Aufbaus ist, dass einzig und allein die Tätervorstellung entscheidend ist. Demnach kann der Bezugspunkt auch ein rein fiktiver Sachverhalt sein. Übrigens: Sollte man den Versuch bejahen, darf man im Anschluss nicht eine etwaige Rücktrittsprüfung vergessen!

II. Tatentschluss

1.) Als Definition sollte man sich folgenden Merksatz einprägen: Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz bezüglich aller Tatbestandsmerkmale sowie das Aufweisen weiterer, falls vorhanden, deliktsspezifischer subjektiver Tatbestandsmerkmale. Dies kann man sich im Prinzip so vorstellen, dass der Tatentschluss identisch mit dem subjektiven Tatbestand des Deliktes ist, das verwirklicht werden sollte. Würde man daher z. B. den Diebstahl prüfen, ginge es hier darum, den Vorsatz im Hinblick auf die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache zu untersuchen. Das zusätzliche, deliktsspezifische Tatbestandsmerkmal wäre am Beispiel des § 242 StGB die Zueignungsabsicht. Dies sind demnach Tatbestandsvoraussetzungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind, die indes kein Pendant im objektiven Tatbestand haben und folglich nur subjektiv relevant werden. Dazu gehören beispielsweise auch die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe. Es müssen mithin sämtliche subjektive Tatbestandsmerkmale vorliegen; angeknüpft wird an den Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens. Und es sei nochmals wiederholt: Entscheidend ist die Vorstellung des Täters, selbst wenn diese keinerlei Berührungspunkte mit der Realität aufzeigt. Der Täter wollte subjektiv mehr erreichen, als er objektiv erreicht hat.

2.) Der Tatentschluss ist abzugrenzen von der sogenannten Tatgeneigtheit. Der Täter hat hier die Möglichkeit der Tatbegehung zwar ggf. geplant und ins Auge gefasst, ist aber insgesamt noch unentschlossen. Es besteht in diesen Situationen ein innerer Konflikt oder zumindest ein innerer Vorbehalt.

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Beispiel:

  • Der Täter A würde am liebsten seine Ex-Frau „loswerden“. Er fasst den Entschluss, zu der ehemaligen Ehewohnung zu fahren und die A umzubringen, sofern er den Mut dazu aufbringt. Hier ist der Täter insgesamt nur zu einer Tat geneigt. Dies reicht noch nicht für einen Tatentschluss.

Von der Tatgeneigtheit abzugrenzen ist der bedingte Handlungswille, der nicht im Kontext des Tatentschlusses, sondern erst beim unmittelbaren Ansetzen virulent wird. Auch hier kann der eben gebildete Fall als Musterbeispiel dienen.

  • Falls der Täter A geplant hat, die B zu töten, aber die Tat aus Rücksicht auf das gemeinsame Kind zu einem späteren Zeitpunkt durchführen will, wenn es abwesend ist, ist dies kein innerer Vorbehalt mehr. Dann ist der Täter bereits zur Tat entschlossen. Die Realisierung des Planes wird dann mit äußeren Umständen verknüpft, die der Täter nicht beeinflussen kann. Für sein inneres „Ich“ hat er aber jedenfalls die Entscheidung getroffen.

Jura-Individuell-Tipp: Die Tatgeneigtheit lässt den Tatentschluss entfallen, der bedingte Handlungswille, bei dem die Tatumsetzung von bestimmten objektiven Umständen abhängig gemacht wird (auch Handeln auf bewusst unsicherer Tatsachengrundlage genannt), führt dazu, dass das unmittelbare Ansetzen genau geprüft werden muss, der Tatentschluss liegt jedoch vor.

III. Unmittelbares Ansetzen

1.) Zwischenaktstheorie

Im Ausgangspunkt ist die sogenannte Zwischenaktstheorie zugrunde zu legen. Demnach muss der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten haben und objektiv zu einer Handlung ansetzen, die nach der Tätervorstellung ohne weitere Zwischenakte, d. h. ohne einen weiteren Willensimpuls, in die Tatbestandserfüllung mündet. Dies ist die Definition, die im Regelfall sehr hilfreich und auch ausreichend ist.

Jura-Individuell-Tipp: Diese Definition sollte jeder Jurastudent auswendig lernen. Darum wird die Definition hier gleich noch einmal wiederholt: Demnach muss der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten haben und objektiv zu einer Handlung ansetzen, die nach der Tätervorstellung ohne weitere Zwischenakte, d.h. ohne einen weiteren Willensimpuls, in die Tatbestandserfüllung mündet.

Es kann aber komplexere Fallsituationen und Klausuren geben, in denen es schwierig sein wird, die genaue Grenze zu markieren, ab der eine Strafbarkeit des Täters angenommen werden kann. Dabei sollte man folgende Methode beherzigen: in den gleich noch aufzuzeigenden Fallgruppen ist die Zwischenaktstheorie um weitere Formeln zu ergänzen. Dies darf aber nicht als Meinungs- oder Streitstand missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine umfassende Analyse, die aus mehreren Blickwinkeln erfolgt. Auch die Rechtsprechung geht zunächst von der Zwischenaktstheorie aus, reichert diese aber in problematischen Einzelfällen um weitere Kriterien an. Wir gehen daher wie ein Arzt vor, der den Verdacht auf eine bestimmte Krankheit hegt und demnach den Patienten auf Symptome und Auffälligkeiten nach einem Muster untersucht. Unsere Definitionen und Kriterien sind quasi dieses Muster. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können nur den Verdacht stärken oder abschwächen, bis wir zu einem Gesamtbild gelangen, das dann maßgeblich für unser Endergebnis ist.

2.) Gefährdungstheorie und Sphärenformel

a) Einen Ansatz bietet hier die Gefährdungstheorie. Zu hinterfragen ist danach, ob das Opfer (bzw. das geschützte Rechtsgut) nach der Tätervorstellung bereits konkret gefährdet ist. Jedoch weist dieses Kriterium auch Schwächen auf, da es doch schwammig und – in verfassungsrechtlicher Hinsicht bedenklich – recht unbestimmt formuliert ist.

b) Die sogenannte Sphärenformel sieht die Einwirkung auf die Opfersphäre als entscheidend an. Wichtig hierfür sind – wiederum nach der Tätervorstellung – die zeitliche Nähe zur Tatbestandsverwirklichung sowie der räumliche Bezug zum Opfer.

3.) Fallgruppen

Wie zum Einstieg erwähnt, wird in aller Regel die Zwischenaktstheorie genügen, um zu einem fundierten und adäquaten Ergebnis zu gelangen. Wenn der Täter folglich alles nach seiner Ansicht Erforderliche unternommen hat, um den Erfolg herbeizuführen, wird der Versuch grundsätzlich zu bejahen sein. Hat der Täter auf sein Opfer geschossen, diesem die Beute entrissen oder den Brandbeschleuniger in die Wohnung geworfen, so ist die eigentliche Tathandlung bereits ausgeführt. Dann gäbe es auch keine Zweifel an der Überschreitung der Versuchsschwelle. Es gibt aber folgende zu beachtende Sonderkonstellationen, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt werden. Sollte eine solche vorliegen, kann man die Gefährdungstheorie und Sphärenformel zusätzlich bemühen.

a) Handlungen im Vorfeld der eigentlichen Ausführungshandlung

Sollte der eigentlichen tatbestandlichen Handlung ein weiteres Verhalten vorgeschaltet sein, eignen sich die oben beschrieben Formeln zur Bestimmung der Versuchsstrafbarkeit gut. Zu nennen sind vor allem die Haustürfälle oder das Auflauern. Kann das Klingeln an der Tür schon genügen, um das unmittelbare Ansetzen zu bejahen, wenn direkt nach Öffnung der Tür auf das Opfer geschossen werden soll? Wie ist der Umstand zu werten, dass der Täter am Bahnhof auf sein Opfer wartet, bis dieser aus dem Zug aussteigt, um dann zu schießen? Zumindest im letztgenannten Fall dürfte der Versuch zu verneinen sein. Nach der Vorstellung des Täters ist zu diesem Zeitpunkt weder das Opfer gefährdet noch eine besondere zeitliche oder räumliche Nähe begründet. Mitunter ist es nämlich ungewiss, ob und wann überhaupt das Opfer auftaucht. Gleiches gilt jedenfalls dann im Falle der Betätigung der Haustürklingel, wenn es sich beispielsweise um ein Mehrfamilienhaus handelt, sodass dann noch mehrere Etagen erklommen werden müssen, bis man dem Opfer begegnet. Derartige zeitliche Zäsuren stehen im Widerspruch zum Erfordernis der Unmittelbarkeit nach § 22 StGB.

b) Distanzdelikte

Im Unterschied zu dem vorherigen Gliederungspunkt hat der Täter die eigentliche Ausführungshandlung bereits vorgenommen. Mit anderen Worten: Er hat bereits alles Erforderliche zur Tatbestandsverwirklichung getan, jedenfalls nach seiner eigenen Perspektive. Im Grundfall wird dann der Versuch zu bejahen sein. Ausnahmsweise kann aber eine gewisse Zeitspanne zwischen der Handlung und dem anvisierten Erfolg liegen.

Beispiele: Hauseigentümer A wurde immer wieder von Einbrechern heimgesucht, die sein gesamtes Hab und Gut mitnahmen. Nachdem er Verdacht schöpft, erneut Opfer eines Wohnungseinbruchsdiebstahls zu werden, präpariert er ein spezielles Getränk, das nach Alkohol riecht, aber in Wirklichkeit Gift enthält. In der Hoffnung, dass die Täter davon einen Schluck nehmen, verlässt er das Haus und fährt in einen Kurzurlaub.

Legte man diesem Fall allein die Zwischenaktstheorie zugrunde, würde das zu einem unbilligen Ergebnis führen. Denn die Zubereitung des Gifts würde schon ausreichen, um die Unmittelbarkeit des Ansetzens zu bejahen. Dies würde aber der Wertung des § 22 StGB nicht gerecht werden. Der Versuchsbeginn wäre zu weit nach vorne verlagert. Gefährdungstheorie und Sphärenformel helfen nur bedingt weiter. Wenn also der Hauseigentümer A denkt, dass die möglichen Täter erst frühestens am Wochenende die Tat umsetzen wollen und dieser beispielsweise am Mittwoch sein Haus verlassen hat, wäre es widersinnig, den Versuchsbeginn so weit nach hinten verlagern, obwohl der Taterfolg ab jetzt im Prinzip von selbst eintreten soll. Denn in dem Moment, indem A sein Haus verlässt, stellt er sich weder eine Gefährdung der Opfer noch eine besondere räumlich-zeitliche Nähe zum tatbestandlichen Erfolg vor. Daher musste hier eine andere Lösung gefunden werden. Die herrschende Meinung verwendet die sogenannte modifizierte Entlassungsformel. Das unmittelbare Ansetzen ist nach dieser Theorie dann zu bejahen, wenn der Täter nach seiner Vorstellung alles Erforderliche für die Tatbestandsverwirklichung getan hat, den Geschehensverlauf bewusst aus der Hand gibt und zeitnah mit einer Gefährdung des Opfers rechnet. Dadurch können interessensgerechte Ergebnisse erzielt werden. In unserem Beispiel wäre folglich das Ansetzen dann anzunehmen, wenn A sein Haus verlässt und danach jeglichen Einfluss auf die Situation verliert.

Weiteres Beispiel:

  • Hat der Täter eine Bombe platziert und damit sein vorgesehenes Handeln abgeschlossen, würde sich die Frage stellen, warum man in diesem Fall den Versuch verneinen sollte, wenn der Täter danach keinen Einfluss mehr auf den weiteren Geschehensverlauf hat. Ausgehend von der Sphärenformel wäre dies aber das Resultat, da möglicherweise erst nach einer erheblichen Zeitspanne das Opfer, das sich gegenwärtig an einer ganz anderen Stelle befindet, getroffen werden soll. Die Strafbarkeit würde im Ergebnis zu weit nach hinten verlagert.

Jura-Individuell-Tipp: Zusammenfassend sollte man sich also einprägen, dass die Zwischenaktstheorie den Ausgangspunkt aller Überlegungen bildet. Hat der Täter bereits die eigentliche tatbestandliche Handlung vorgenommen, gibt es in der Regel auch keine Schwierigkeiten im Hinblick auf das unmittelbare Ansetzen. Haben wir es hingegen mit einem Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Ausführungshandlung zu tun, ist ergänzend auf die Gefährdungstheorie und die Spährenformel einzugehen. Stellt der Täter dagegen eine Falle oder haben wir es mit einem Distanzdelikt zu tun, sollte zusätzlich an die modifizierte Entlassungsformel gedacht werden. Beachte aber:  Bei der Mittäterschaft beginnt das unmittelbare Ansetzen nach h. M. für alle Mittäter dann, wenn ein Mittäter in Vollzug des gemeinsamen Tatplanes zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt (sogenannte Gesamtlösung). Nach der sogenannten Einzellösung (Minderheitsmeinung), ist für jeden Mittäter gesondert festzustellen, ob er bereits mit seinem Beitrag unmittelbar zur Tat angesetzt hat.

IV. Besonderheiten: Der untaugliche Versuch in Abgrenzung zum Wahndelikt

1.) Der untaugliche Versuch

Bei einem unbefangenen Blick ist die Frage durchaus berechtigt, ob eine Versuchsstrafbarkeit auch dann in Betracht kommt, wenn objektiv zu keinem Zeitpunkt eine reale Gefahr drohte. Schießt jemand auf eine bereits tote Person oder auf eine für einen Menschen gehaltene Schaufensterpuppe, verwendet der Täter eine defekte Waffe oder eine fehlerhaft konstruierte Bombe, so war von Anfang an keine Rechtsgütergefährdung zu befürchten. Allerdings ist das Gesetz eindeutig. § 23 III StGB besagt, dass die Strafe gemildert werden kann, wenn der Täter aus grobem Unverstand heraus verkennt, dass seine Handlung gar nicht zur Vollendung führen konnte. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass selbst in diesen Fällen wegen Versuchs bestraft wird. Dies bestätigt demnach, dass einzig die Tätervorstellung zählt. Die eben aufgeführten Beispiele wären allesamt als untauglicher Versuch einzustufen. Dies ist aber quasi als bloß dogmatische Begrifflichkeit zu verstehen. Unterschiede für die Prüfung ergeben sich daraus keine. Der in § 23 III StGB erwähnte „grobe Unverstand“ (als Spezialfall des untauglichen Versuchs) kann als Strafzumessungsregel kurz im Anschluss an die Prüfung erwähnt werden und betrifft Fälle, in denen der Täter nicht einmal einfachste naturgesetzliche Zusammenhänge erkennen kann. Es sind also solch krasse Fehler, die normalerweise nicht einmal Laien unterlaufen. Als Paradebeispiel dient die Konstellation, in der eine Frau der Vorstellung unterliegt, dass sie mit Kamillentee eine Abtreibung bewirken kann. Sollten die weiteren Voraussetzungen des versuchten Schwangerschaftsabbruches vorliegen, kann dann die Strafe nach § 23 III StGB gemildert werden.

2.) Das straflose Wahndelikt

Der untaugliche Versuch ist also strafbar. Dies gilt hingegen nicht für das sogenannte Wahndelikt. Um dies tatsächlich nachvollziehen zu können, hilft ein Vergleich zu den Fällen, in denen der Täter aus vollendetem Delikt bestraft werden könnte. Unterliegt der Täter einem Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB, so schließt dies den Vorsatz aus und der Täter bleibt straflos. Umgekehrt, also im Versuchsfall, muss eine entsprechende Fehlvorstellung sanktionierbar bleiben. Wenn also eine Fehlvorstellung für den Täter entlastend wirken kann, weil er sich für ihn günstige Umstände vorgestellt hat, muss im umgekehrten Fall eine entsprechende Vorstellung auch belastenden Charakter haben. 

Beispiel:

  • A denkt, er schießt auf eine Schaufensterpuppe und tötet versehentlich einen Menschen. Eine Strafbarkeit aus § 212 StGB scheidet aus, es käme nur eine fahrlässige Tötung in Betracht.
  • A denkt, er schießt auf einen Menschen und „tötet“ die Schaufensterpuppe. Dann wäre es nicht logisch, wenn der Täter hier ebenfalls straflos wäre. Seine Fehlvorstellung muss nun belastenden Charakter haben. Daher kommt eine versuchte Tötung nach §§ 212, 22, 23 StGB in Betracht, es liegt ein untauglicher Versuch vor.

Bei dem straflosen Wahndelikt geht es dagegen um Fälle, die im Kontext einer vollendeten Straftat als Verbotsirrtum zu qualifizieren wären. Auch hier muss wieder eine einheitliche Linie gewahrt bleiben. Da der Verbotsirrtum nach §17 StGB grundsätzlich unbeachtlich ist, muss selbiges auch für die Versuchskonstruktion gelten.

Beispiel: 

  • A denkt, sie darf ihr Kind körperlich misshandeln und beruft sich auf das elterliche Züchtigungsrecht. Es liegt eine vollendete Körperverletzung nach § 223 StGB vor. Diese Vorstellung wirkt sich nicht entlastend für den Täter aus. Tangiert ist lediglich das in der Schuld zu prüfende Unrechtsbewusstsein.
  • Ausländer A denkt, dass die Homosexualität in Deutschland genauso wie in seinem Heimatland strafbar sei. Wenn nun ein Verbotsirrtum den Täter nicht entlasten kann, kann es umgekehrt nicht angehen, dass eine solche Fehlvorstellung bei der Versuchsprüfung belastenden Charakter entwickelt. Folglich bleibt der Täter in jedem Fall auch dann straflos, wenn er den gleichgeschlechtlichen Verkehr in dem Bewusstsein der Strafbarkeit vollzieht.
  • Weiteres Beispiel: Makler A preist ein bestimmtes Objekt als Schnäppchen an. Sollte das Objekt in der Tat zwar kein Schnäppchen sein, aber der bezahlte Preis übersteigt den Verkehrswert nicht, läge für die  Käufer kein Vermögensschaden vor. Es scheidet also ein vollendeter Betrug aus. Denkt der Makler A, dass er einen Betrug begeht, käme ein entsprechender Versuch in Betracht. Aber hier ist ebenfalls die Kategorie des straflosen Wahndelikts in Form des sogenannten Subsumtionsirrtums einschlägig. Damit bezeichnet man einen Sachverhalt, wonach dem Täter die Existenz einer Strafnorm bekannt ist, er sein Verhalten daraufhin fälschlicherweise dieser Norm zuordnet. Parallel hierzu liegen die Konstellationen, in denen der Täter zum Beispiel mittels Notwehr sein Eigentum verteidigt, aber denkt, hierzu nicht befugt zu sein.

Allen Fallbeispielen ist gemein, dass der Täter in diesen Situationen – im Gegensatz zum untauglichen Versuch – den Sachverhalt als solchen vollständig erfasst. Nur die Schlussfolgerung ist eine falsche, da der Täter eine fehlerhafte rechtliche Bewertung bemüht. Da eine falsche rechtliche Einschätzung in aller Regel nach § 17 StGB nicht das Unrechtsbewusstsein entfallen lassen kann, kann umgekehrt ein solcher Umstand nicht strafbarkeitsbegründend wirken.

Jura-Individuell-Tipp: Beim untauglichen Versuch irrt der Täter demnach über Tatsachen (er erfasst den Sachverhalt nicht richtig), beim Wahndelikt irrt der Täter hingegen über die rechtlichen Folgen seiner Handlung (er erfasst den Sachverhalt aber richtig).

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