Praktische Konkordanz – Prüfschema

Aufbau praktische Konkordanz in der Fall-Lösung schrankenloser Grundrechte, z.B. Art.4 GG, Art. 5 III GG. Wichtig für Prüfung Verhältnismäßigkeit.

Datum
Rechtsgebiet Öffentliches Recht
Ø Lesezeit 8 Minuten
Foto: Alexandr Jitarev/Shutterstock.com

Unter der „praktische Konkordanz“ können sich viele Studierende wenig vorstellen. Weiterhin fehlt es an genauen Anleitungen für den Aufbau der praktischen Konkordanz in der Klausur sowie in der Hausarbeit. Der vorliegende Beitrag versucht, Abhilfe zu schaffen.

A. Fall

Zur Verdeutlichung der Problematik folgender einprägsamer Fall:

Der Landschaftsmaler A ist mit dem Auto auf der Landstraße unterwegs und erkennt hinter einer Kurve ein unvergleichliches Landschaftsmotiv. Sofort stellt er sein Auto am Straßenrand ab, um das Motiv so schnell wie möglich zu fixieren. Dazu benutzt er die Straßenfläche der Landstraße, indem er mit einem Kreidestift das Landschaftsmotiv auf die Fahrbahn aufmalt. Der Polizist P fordert ihn auf, es zu unterlassen, die Straße als Zeichenfläche zu nutzen. A sieht sich in seinem Grundrecht auf Kunstfreiheit verletzt. Zu Recht?

B. Lösung

Verletzung der Kunstfreiheit aus Art. 5 III GG

Zu prüfen ist, ob das Grundrecht der Kunstfreiheit des A durch das von P ausgesprochene Verbot, die Landstraße nicht als Zeichenfläche nutzen zu dürfen, verletzt wurde.

I. Schutzbereich

Die Tätigkeit des A ist – unabhängig vom vertretenen Kunstbegriff – als Kunst anzusehen. Damit ist das Zeichnen des Landschaftsmotives vom sachlichen Schutzbereich des Art. 5 III GG umfasst.

II. Eingriff

Die Aufforderung des P, das Zeichnen auf der Straße zu unterlassen, stellt einen Eingriff in den Schutzbereich dar.

III. Rechtmäßigkeit des Eingriffs

Fraglich ist, ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist.

1. Schrankenlos gewährtes Grundrecht

Die Kunstfreiheit aus Art. 5 III GG unterliegt keinem Schrankenvorbehalt und ist somit grundsätzlich nicht beschränkbar.

2. Analoge Anwendung der Schranke aus Art. 5 II GG

Eine analoge Anwendung der Schranke aus Art. 5 II GG entfällt schon aus systematischen Gründen, da die von Art. 5 III GG umfasste Kunstfreiheit erst nach der Schrankenregelung aufgeführt wird und somit nicht als von dieser umfasst angesehen werden soll.

3. Einschränkung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz

Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ist eine Einschränkung eines schrankenlos gewährten Grundrechtes nur insoweit möglich, wie diese Einschränkung nötig ist, um einem anderen Grundrecht oder Verfassungsprinzip die Entfaltung zu gewährleisten. Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ist die Grenze der Einschränkung in dem Moment erreicht, in dem die gegenüberstehenden Verfassungswerte ihre größtmögliche Entfaltung und Wirksamkeit erlangen.

Wo diese Grenze zu ziehen ist und inwieweit diese Einschränkung zulässig ist, richtet sich nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dabei bedarf die Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechtes zum Schutz eines anderen Verfassungswertes einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (BverfGE 108, 282; 83, 130 [142]).

WICHTIG:Ein verfassungsmäßiger Eingriff im Rahmen der praktischen Konkordanz setzt demnach voraus, dass

  • kollidierendes Verfassungsrecht vorliegt,
  • der Eingriff dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes entspricht,
  • und der Eingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
  • a.) Kollidierendes Verfassungsrecht

Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt vorliegend das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG in Betracht. Dieses Grundrecht erzeugt Handlungspflichten für den Grundrechtsinhaber aus Art. 5 III GG. Damit liegt eine Kollision von zwei sich gegenseitig beeinflussenden Verfassungsgütern vor.

b.) Gesetzliche Grundlage für den Eingriff

Zu prüfen ist, ob der im Interesse des aufgeführten betroffenen Schutzbereiches der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG vorgenommene Eingriff des Polizisten dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes genügt. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes folgt aus Art. 20 III GG, dem aus Art. 20 I GG hergeleiteten Rechtsstaatsprinzip sowie dem Demokratieprinzip und besagt, dass Eingriffe in besonders schutzwürdige Verfassungswerte dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Dies wird noch einmal durch die Wesentlichkeitstheorie bestätigt, welche besagt, dass die Regelungen für einen Eingriff dem Parlament vorbehalten bleiben, wenn er in wichtige Verfassungsgüter erfolgt. Demnach bedürfen auch nach der Wesentlichkeitstheorie staatliche Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 5 III GG einer parlamentarischen Grundlage. Diese ist in den Generalklauseln der Polizeigesetze der einzelnen Bundesländer – wie z.B. § 11 NSOG, § 11Bay PAG; § 7 BayLStVG; § 14 OBG NRW; § 8 PolG NRW – zu sehen. Damit beruhte das Verbot des Polizisten auf einer hinreichenden parlamentarischen Ermächtigungsgurndlage, welche dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes entspricht.

c.) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

Weiterhin ist zu prüfen, ob der von P vorgenommene Eingriff den Voraussetzungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit genügt.

aa.) Erlaubter Zweck des Eingriffs

Der Zweck des von P ausgesprochenen Verbotes lag u.a. darin, dass Recht der Autofahrer auf freie Nutzung der Landstraße sicherzustellen. Dieses Recht ist in Form der allgemeinen Handlungsfreiheit vom Schutzbereich des Art. 2 I GG umfasst. Damit ist der Zweck des Verbotes erlaubt.

bb.) Erlaubtes Mittel zur Erreichung des Zwecks

Das Mittel in Form des ausgesprochenen Verbotes durch P hat seine Grundlage in der polizeirechtlichen Generalklausel und ist ebenfalls erlaubt.

cc.) Geeignetheit des Mittels

Das Mittel in Form des ausgesprochenen Verbotes ist weiterhin geeignet, den oben festgestellten legitimen Zweck zu erreichen.

dd.) Erforderlichkeit des Mittels

Weiterhin müsste das Verbot erforderlich gewesen sein. Dies ist der Fall, wenn keine milderen Mittel in Betracht kommen den angestrebten Zweck in Form der Sicherung der Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer gewährleisten zu könnnen. Ein milderes Mittel wie eine Aufforderung an den Störer, sein Handeln zu unterlassen ist nicht ersichtlich. Damit stellte das von P ausgesprochene Verbot auch das mildeste Mittel dar und war somit erforderlich.

ee.) Angemessenheit

(Kernprüfung der praktischen Konkordanz)

Schließlich muss das Verbot auch angemessen oder verhältnismäßig im engeren Sinn gewesen sein. An dieser Stelle erfolgt eine Abwägung zwischen dem Rechtsgut, zu dessen Schutz der Eingriff durchgeführt wurde, mit dem Rechtsgut, welches von dem Eingriff betroffen ist. Das Rechtsgut, zu dessen Schutz der Eingriff erfolgte, ist das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit der Autofahrer aus Art. 2 I GG. Die Autofahrer haben keine andere Möglichkeit, sich fortzubewegen, wie die Landstraße zu nutzen. Fraglich ist, ob die Autofahrer hätten warten müssen, bis der A sein Motiv fertig gezeichnet hätte, um dem Grundrecht des A auf Kunstfreiheit Geltung zu verschaffen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der A keine andere Möglichkeit gehabt hätte, in der betreffenden Situation sein Grundrecht auf Kunstfreiheit seinen Vorstellungen entsprechend auszuüben. Hier ging es dem A darum, das einmalige Landschaftsmotiv in beständiger Form festzuhalten und nicht um ein darüber hinausgehendes Motiv, welches nur in Verbindung mit dem Malen des Motives auf die Straße hätte erreicht werden können. Das maltechnische Festhalten des gewünschten Landschaftsmotives wäre auch durch Aufzeichnen des Motives auf einem Malblock möglich gewesen. Selbst wenn A keinen Block dabei gehabt haben sollte, so hätte er sich ohne weiteres einen Block besorgen können, da das Landschaftmotiv nicht vergänglich gewesen ist. Somit war das Malen auf der Landstraße nicht erforderlich, um im Sinne der praktischen Konkordanz dem Grundrecht des A auf Kunstfreiheit aus Art. 5 III GG die erforderliche größtmögliche Wirkungsmöglichkeit zu gewährleisten. Damit tritt der Schutzbereich des Art. 5 III GG in diesem Fall zu Gunsten der Entfaltung des Schutzbereiches der Autofahrer aus Art. 2 I GG zurück. Damit war der Eingriff in Form der Aufforderung des P an den A, das Malen auf der Fahrbahn einzustellen, angemessen.

b.) Ergebnis

Im Ergebnis war der Eingriff verhältnismäßig im Sinne der praktischen Konkordanz und damit auch rechtmäßig. Eine Verletzung des Grundrechtes aus Art. 5 III GG kann somit nicht festgestellt werden.

3. Anmerkung

Stellenweise wird auch vertreten, dass die Grundsätze der praktischen Konkordanz schon Auswirkungen auf den Schutzbereich des durch den Eingriff betroffenen Grundrechtes haben. In diesem Fall müsste man bereits im Schutzbereich des betroffenen Grundrechtes eine Abwägung zwischen dem Grundrecht, welchem durch den Eingriff zur Wirkung verholfen werden soll, und dem eingeschränkten Grundrecht vornehmen. Vom Ergebnis dieser Abwägung hinge nach dieser Ansicht dann der Umfang des Schutzbereiches des betroffenen Grundrechtes ab. Aus Gründen der Übersichtlichkeit in Klausur und Hausarbeit wird hier jedoch der oben aufgezeigte Lösungsweg bevorzugt.

4. Zusammenfassung

a.) Bei der Frage, ob ein Eingriff in schrankenlos gewährte Grundrechte zulässig ist, kann zuerst die Frage der analogen Anwendbarkeit von bereits vorhandenen Schranken anderer Grundrechte gestellt werden.

b.) Kommt eine solche analoge Anwendung aus systematischen oder theleologischen Gründen nicht in Frage, kann eine Beschränkung vorbehaltlos gewährter Grundrechte nur im Wege der praktischen Konkordanz erfolgen.

aa.) Im ersten Schritt prüft man entgegenstehendes (kollidierendes) Verfassungsrecht, demnach das Vorliegen von Grundrechten oder Verfassungswerten, welche das einzuschränkende Grundrecht berühren könnten. An dieser Stelle sind vor allem die Kompetenznormen des Grundgesetzes nicht als entgegenstehende Verfassungswerte einzuordnen, da von ihnen keine Handlungfplichten für den betroffenen Grundrechtsinhaber ausgehen.

bb.) In einem zweiten Schritt prüft man, ob der Eingriff in das Grundrecht, welcher zum Schutz von kollidierenden Verfassungswerten erfolgte, auch auf einer wirksamen gesetzlichen Grundlage beruht, welche dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes entspricht.

cc.) In einem dritten Schritt wird schließlich geprüft, ob der im Interesse anderer Verfassungsgüter erfolgte Eingriff in das entprechende Grundrecht auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Hier wird der Schwerpunkt der Prüfung vor allem bei der „Angemessenheit“ liegen, wo zwischen dem Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird, und dem Rechtsgut, in welches eingegriffen wird, eine Abwägung stattfindet.

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C. Hinweise

Zur Ergänzung siehe auch den Klausurfall zum Schulgebet und den Klausurfall zum Schächtungsverbot sowie den Beitrag zum Prüfschema für die Dreistufentheorie und Prüfungsschema zu Art. 14 I 1 GG, „Klausur zur Berufsfreiheit

Für weitere aktuelle Beiträge siehe auch die Übersicht für „Artikel“.

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