Art. 9 GG in der Klausur

Übersicht über Art. 9 GG, der Vereinigungsfreiheit. Ausgestaltetes Prüfungsschema mit Tipps und Hinweisen für die Bearbeitung in der Klausur.

Datum
Rechtsgebiet Grundrechte
Ø Lesezeit 9 Minuten
Foto: yuttana Contributor Studio/Shutterstock.com

Man liest bei vielen Grundrechten, dass sie vom Studierenden oder Examenskandidaten in der Vorbereitung nicht ausreichend gewürdigt werden. Art. 9 GG gehört aber mit Sicherheit dazu; selbst in vielen kommerziellen Repetitorien wird zu der Norm kein einziger Fall gelöst, sondern es gibt eine kurze Übersicht mit den entscheidenden Problemen.

In der Tat sind Fälle, in denen Art. 9 GG eine zentrale Rolle spielt, in der Ausbildung eher die Ausnahme. Dann ist aber auch klar, was geschieht, wenn man die Norm einigermaßen durchschaut hat und ein Fall sich tatsächlich mal damit beschäftigt: Die Punkte gehen durch die Decke. Dieser Beitrag soll dabei helfen, die Norm zu durchschauen.

I. Allgemeines

Art. 9 GG enthält zwei Grundrechte. In seinem ersten Absatz schützt die allgemeine Vereinigungsfreiheit das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung (BverfGE 38, 281 (303)) und in seinem dritten Absatz enthält er als Spezialgrundrecht der allgemeinen Vereinigungsfreiheit die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit (Koalitionsfreiheit).

Während Art. 9 I GG einen engen Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten aus Art. 5 I und 8 I GG aufweist, besteht dieser Zusammenhang für Art. 9 III GG zu den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundrechten aus Art. 12 I,Art. 14 und Art. 15 GG.

Art. 9 II GG enthält einen engen Schrankenvorbehalt, der in jedem Fall auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit anwendbar ist. Umstritten ist die Anwendbarkeit auf Art. 9 III GG. In jedem Fall unterliegen beide Grundrechte des Art. 9 GG verfassungsimmanenten Schranken und dem Vorbehalt von ausgestaltenden gesetzlichen Regelungen in Abgrenzung zum Eingriff.

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II. Art. 9 I – Die allgemeine Vereinigungsfreiheit

1. Definition der Vereinigung, § 2 I VereinsG

Hoffentlich stutzt der Leser jetzt kurz angesichts der Tatsache, dass sich eine einfachgesetzliche Norm in der Zwischenüberschrift befindet. Denn wie wir alle wissen, kann das einfache Gesetz einen verfassungsrechtlichen Begriff nicht einfach so definieren. Es ist allerdings mehr oder weniger allgemein anerkannt, dass der Begriff des Vereins in § 2 VereinsG eine Definition enthält, die derjenigen des Grundgesetzes entspricht.

Daher hier nun § 2 VereinsG:

Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.

Jura Individuell-Hinweis: Eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen besteht nach herrschender Meinung bereits ab zwei Personen. Das Merkmal „für längere Zeit“ grenzt Art. 9 GG von Art. 8 GG ab. Anders als bei Art. 8 I GG ist Art. 9 I GG für jeden Zweck offen (siehe zu der Thematik Art. 8 GG in der Klausur). An der Freiwilligkeit scheitert es bei öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschlüssen.

2. Geschützte Verhaltensweisen

a. Positiver Gewährleistungsinhalt

Wenn wir uns nur den Wortlaut anschauen, dann ist nur die Freiheit geschützt, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Unter das Recht auf Bildung einer Vereinigung fallen

  • das Recht auf Festlegung des Sitzes,
  • das Recht auf Festlegung der Rechtsform,
  • das Recht auf Festlegung der inneren Organisationsstruktur
  • sowie das Recht zur freien Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder.

Geschützt ist auch der Vereinsname, da Vereine damit öffentlich auftreten und er dazu dient, sich von anderen Vereinen abzugrenzen.

Würde sich, wie es der Wortlaut eben vermuten lässt, Art. 9 I GG auf die Bildung von Vereinigungen beschränken, so wäre der Schutz doch sehr unzureichend. Aus diesem Grund ist auch die sog. Vereinsautonomie geschützt. Hierunter versteht das Bundesverfassungsgericht das Recht zur Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte. Ganz wichtig für Vereinigungen ist auch der Bereich der Mitgliederwerbung.

Vorsicht: Nach herrschender Meinung werden Vereinigungen aber nur in ihrer vereinsspezifischen Betätigungsfreiheit geschützt! Was bedeutet das? Liest man Urteile des Bundesverfassungsgerichts, dann geht es um Betätigungen, die die Existenz und Funktionsfähigkeit der Vereinigungen als solche betreffen, m.a.W. das Recht auf Sicherung ihres Bestehens. Vielleicht hilft es, wenn man deutlich macht, was etwa nicht vereinsspezifisch ist: Wird einer Vereinigung eine Demonstration verboten, so bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 9 I GG, sondern es ist einzig und allein Art. 8 I GG zu prüfen. Zur Begründung kann man anführen, dass diese Vereinigung überhaupt nicht einen erweiterten Schutz benötigt.

b. Negativer Gewährleistungsinhalt

Wir kennen das von anderen Grundrechten, geschützt ist auch immer die negative Seite und für Art. 9 I GG bedeutet das, dass jedermann das Recht hat, Vereinigungen nicht beizutreten oder auch wieder aus ihnen auszutreten. In dem Kontext kann man kurz ins Grübeln kommen, wie denn dann eigentlich Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Zwangsverbänden zulässig sein können und die Antwort ist ganz pfiffig: Art. 9 I GG schützt ja nur die Bildung von privatrechtlichen Vereinigungen und nicht von öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Da der Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit nicht weiter gehen kann als der Schutzbereich der positiven Vereinigungsfreiheit, ist Art. 9 I GG in diesen Fällen überhaupt nicht berührt.

3. Wer ist Träger des Grundrechts aus Art. 9 I GG?

Nach h.M. handelt es sich bei Art. 9 I GG um ein sog. „Doppelgrundrecht“, das einerseits den Mitgliedern der Vereinigung und andererseits aber auch der Vereinigung als solcher zusteht, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 19 III GG bedarf. Die Mindermeinung bemüht eben Art. 19 III GG, sodass man im Ergebnis jeweils zum gleichen Ergebnis kommt.

4. Eingriffe

Eingriffe sind in mannigfaltiger Form denkbar. Reine Bagatellen stellen allerdings keine Eingriffe dar, wie etwa die Verpflichtung zur Registrierung der Vereinigungsbildung. Andererseits kann auch mal ein Eingriff im Sinne des modernen Eingriffbegriffs vorliegen, etwa durch intensive Überwachung einer Vereinigung oder durch öffentliche Warnung vor dieser.

5. Schranke

Art. 9 II GG scheint rein vom Wortlaut her für eine Begrenzung des Schutzbereichs zu sprechen. Aus Gründen der Rechtssicherheit versteht die h.M. Art. 9 II GG allerdings als einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, der auch für religiöse Vereinigungen i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV gilt. Dieser qualifizierte Gesetzesvorbehalt befasst sich mit dem Vereinsverbot und hält dieses abschließend in drei Fällen für möglich:

  • Zuwiderlaufen gegen die allgemeinen Strafgesetze: Strafgesetze sind die allgemeinen Strafgesetze, d.h. Strafvorschriften, die kein gegen die Vereinigungsfreiheit gerichtetes Sonderstrafrecht darstellen. Ein Verstoß gegen Ordnungswidrigkeiten ist nicht ausreichend.

Jura Individuell-Hinweis: Das Verhalten einzelner Mitglieder der Vereinigung ist nur dann relevant, wenn es der Vereinigung zugerechnet werden kann.

  • Ausrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung: Hier ist es gut zu wissen, dass der Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“ nicht der gleiche ist wie in Art. 2 I GG und Art. 20 III GG, sondern mit dem Terminus der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ im Sinne des Art. 18 GG gleichgesetzt wird. Außerdem muss das Verhalten der Vereinigung kämpferisch-aggressiv sein.
  • Ausrichtung gegen den Gedanken der Völkerverständigung: Auch hier ist es super, wenn man dem Korrektor zeigen kann, dass man einen guten Überblick über das Grundgesetz hat und den Begriff der „Völkerverständigung“ mit dem „friedlichen Zusammenleben der Völker“ aus Art. 26 I GG, mit dem „Frieden in der Welt“ aus der Präambel und dem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ aus Art. 24 GG verbindet. Auch hier ist ein aggressiv-kämpferisches Vorgehen notwendig.

III. Art. 9 III GG – Die Koalitionsfreiheit

1. Definition der Koalition

Koalitionen sind Vereinigungen i.S.d. Art. 9 I GG, die die Wahrung und Förderung der Arbeits- und der Wirtschaftsbedingungen verfolgen. Arbeitsbedingungen sind dabei solche, die mit dem Arbeitsverhältnis selbst zu tun haben, während Wirtschaftsbedingungen mehr einen sozialpolitischen Bezug aufweisen. Über den Wortlaut hinaus müssen die Koalitionen noch weitere Kriterien erfüllen: Das Prinzip der Gegnerfreiheit (d.h. in einem Verband sind auschließlich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer), der Unabhängigkeit (meint wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber der Gegenseite), der Überbetrieblichkeit und der Durchsetzungsfähigkeit.

2. Geschützte Verhaltensweisen

a. Positiver Gewährleistungsinhalt

  • Das Recht sich mit anderen zu Koalitionen zusammenzuschließen.
  • Der Beitritt zu einer bereits bestehenden Koalition.
  • Der Verbleib und die Betätigung in der Koalition.

b. Negativer Gewährleistungsinhalt

Negativ sind das Fernbleiben von einer Koalition und der Austritt geschützt.

3. Wer ist Träger des Grundrechts aus Art. 9 III GG?

Anders als bei Art. 9 I GG ist es bei Art. 9 III GG unbestritten, dass es sich um ein Doppelgrundrecht handelt, d.h. die Mitglieder der Koalition wie auch die Koalition selbst sind Träger des Grundrechts. Zur Begründung kann man anführen, dass in Art. 9 III 3 GG von „Arbeitskampf“ die Rede ist, also einer Maßnahme, die die kollektive Koalitionsfreiheit voraussetzt. Hier ist ein Rückgriff auf Art. 19 III GG also nach keiner Ansicht notwendig.

4. Eingriffe vs. ausgestaltende Regelungen

Die Ausübung der Koalitionsfreiheit ist von einem gewissen stabilen Rahmen abhängig, den der Gesetzgeber liefern muss und durch welchen dieser die Ausübung der Koalitionsfreiheit festlegt oder modifiziert.

Jura Individuell-Hinweis: Rein dogmatisch enthält Art. 9 III 2 GG eine sehr spannende Vorschrift, denn es handelt sich um einen Fall unmittelbarer Drittwirkung von Grundrechten: Ein Eingriff ist bei einer rechtswidrigen Beeinträchtigung durch private Dritte zu bejahen!

5. Schranke

Wie bereits in der Einleitung angesprochen, ist umstritten, ob Art. 9 III GG unter dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt aus Art. 9 II GG steht. Dagegen spricht sicherlich die systematische Stellung der Schranke vor dem Schutzbereich. Letztlich bleibt das aber ein ziemlich akademischer Streit, weil die praktische Relevanz der Schranke des Art. 9 II GG für den Schutzbereich des Art. 9 III GG sehr gering ist. Jedenfalls kann aber unter Rückgriff auf das Konzept der verfassungsimmanenten Schranke kollidierendes Verfassungsrecht einen Eingriff in Art.9 III GG rechtfertigen.

IV. Konkurrenzen zu anderen Grundrechten

Zum Abschluss wollen wir uns noch ein paar klassischen Konkurrenzproblemen im Zusammenhang mit Art. 9 GG widmen. Hierzu gilt, dass Art. 9 I GG durch spezielle Vereinigungsfreiheiten verdrängt wird. Art. 9 I GG muss also zurückstehen hinter

  • der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 III GG,
  • der religiösen Vereinigungsfreiheit nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV
  • sowie der Parteiengründungsfreiheit aus Art. 21 I 2 GG.

Jura Individuell-Hinweis: Da kommunale Wählervereinigungen nicht unter den Parteienbegriff des Grundgesetzes fallen, stellen sie keine Parteien i.S.d. Art. 21 GG dar und werden damit durch Art. 9 I GG geschützt.

Jura Individuell-Hinweis: Das Parteienverbot durch das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 21 II 2 GG ist vorrangig gegenüber dem Verbot politischer Vereinigungen nach Art. 9 II GG durch die Exekutive (Stichwort Parteienprivileg!).

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