Die Entwicklung des deutschen Strafgesetzbuches

Artikel über die Entwicklung des deutschen Strafgesetzbuch als geschichtlicher Hintergung und als Teil des juristischen Allgemeinwissens

Datum
Rechtsgebiet Rechtsgeschichte
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Das deutsche Strafgesetzbuch ist neben dem Bürgerlichen Gesetzbuch die wohl älteste und im gewöhnlichen Rechtsgebrauch relevanteste Kodifikation eines einzelnen Rechtsgebiets im deutschen Recht. Es war eines der ersten Gesetze, das nach der Gründung des Deutschen Reichs am 13. Januar 1871 in seinem Geltungsbereich auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt wurde, und stellte damit einen Meilenstein der Vereinheitlichung des durch die bisherige Aufteilung in zahlreiche zum Teil winzige Einzelstaaten verursachten Rechtszersplitterung innerhalb Deutschlands dar. Die Geschichte dieses in weiten Teilen bis heute gültigen Gesetzeswerks soll hier kurz beschrieben werden.

Eine Zeit des Umbruchs

Der unmittelbare Vorgänger des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich war das Strafgesetzbuch für das Königreich Preußen, das seine Entstehung der rasanten Veränderung und Entwicklung der Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdankte. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und dem Einsetzen der Industrialisierung bröckelten die überkommenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse trotz des Widerstandes der autoritären absolutistischen Machthaber mit zunehmender Geschwindigkeit dahin, was sich in einer Serie von Unruhen und Revolutionen in ganz Europa entlud. Zum einen hatten die Fürsten in den „Befreiungskriegen“ gegen die Franzosen die nationale Einheit der Deutschen und  die Freiheit der Bürger beschworen, insbesondere die treibenden Mächte Preußen und Österreich wollten nach dem Sieg davon aber nichts mehr wissen und kehrten zum absolutistischen Status quo ante zurück, als sei nichts gewesen. Zum anderen machten sich mit der beginnenden industriellen Revolution immer stärkere soziale Veränderungen bemerkbar, welche den inneren Frieden Europas belasteten. Am stärksten wirkten die Revolutionen von 1830/31, welche das restaurierte Königtum der Bourbonen in Frankreich endgültig stürzten und Belgien die Unabhängigkeit von den Niederlanden brachte, sowie die Revolutionen der Jahre 1848/49, in welchen die absolutistischen Staaten Deutschlands an den Rand des Untergangs gerieten und sich des Drangs nach mehr Freiheit und nationaler Einheit nur mit Waffengewalt  erwehren konnten. Auch in Frankreich stürzte die konstitutionelle Monarchie des bourbonischen „Bürgerkönigs“ Louis Phillipe, und die Zweite Republik wurde ausgerufen.

Nachdem die revolutionären Unruhen und der erste Versuch zur Schaffung eines demokratischen deutschen Reiches nach der gewaltsamen Auflösung des Paulskirchenparlaments endgültig niedergeschlagen waren, schien die Welt für die absolutistischen Herrscher in Deutschland vorerst wieder in Ordnung zu sein. Es ließ sich jedoch nicht verhehlen, dass die Unruhen zu einem  erheblichen Teil den gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen entsprungen waren, die mit den tiefgreifenden Umwälzungen der Zeit der Industrialisierung einhergingen. Dazu gehörten v.a. ein starkes Bevölkerungswachstum, massive Landflucht und Verstädterung, das Wachstum des städtischen Arbeiterproletariats und die Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen infolge des Aufkommens der Fabriken sowie der zahlreichen Innovationen. Hinzu trat auch die Verbreitung einer durch revolutionäres Gedankengut beeinflussten neuen Auffassung der Rechte und Pflichten der Bürger, die mit den meist noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden geltenden Regeln nicht mehr übereinstimmten. Doch nicht nur die Gesellschaft hatte sich verändert, sondern auch die Rechtsprechung. Die oft noch aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit überkommenen Gesetze und Verfahren wichen zunehmend solchen, die rechtsstaatlichen Anforderungen genügten, erstmals tagten die Gerichte öffentlich, und man hatte damit begonnen, Schwurgerichte einzurichten, bei denen die Bevölkerung an der Rechtsprechung aktiv mitwirkte.

Um den starken Drang nach Reformen zu mildern, der für den Ausbruch der Revolution mit verantwortlich gewesen war, entschied man sich in Preußen für den Weg der Revolution von oben, der in den folgenden Jahrzehnten konsequent weiterverfolgt wurde. Diese Herangehensweise zieht sich wie ein roter Faden durch große Teile der preußischen Politik dieser Jahrzehnte, die ganz wesentlich durch den Ministerpräsidenten Otto von Bismarck geprägt wurden, und sie führten letztendlich auch zur Vereinigung der meisten deutschen Staaten unter preußischer Hegemonie. Obwohl der Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat im Volk allgegenwärtig war, ging die Vereinigung nicht vom Volk aus, sondern wurde durch Kriege und Verordnung von oben herbeigeführt.

Ein neues Strafgesetzbuch für Preußen

Ein Bestandteil dieser Reformen war die Neufassung der Strafrechtsbestimmungen, die bisher – wie die meisten Rechtsgebiete – im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten (ALG) von 1794 geregelt war. Diese universelle Kodifikation des gesamten Rechts, auf das König Friedrich der Große ganz wesentlichen Einfluss ausgeübt hatte, zeichnete sich durch eine sehr gute Allgemeinverständlichkeit und einen sogenannten „Erzählstil“ aus, was zwar den Bürgern zugutekam, aber den Berufsjuristen, die genaue Definitionen brauchten, eher hinderlich war. An die Stelle des entsprechenden Teils des ALG trat nun ein ganz neues Strafgesetzbuch, das in wesentlichen Teilen vom modernen Bairischen Strafgesetzbuch von 1813 geprägt war, für dessen Entstehung der große Jurist Anselm von Feuerbach ganz wesentlich verantwortlich zeichnete. Eine weitere Rechtsquelle war das Rheinische Strafgesetzbuch von 1810, das mit dem französischen Code Pénal aus der napoleonischen Ära fast identisch war und in den linksrheinischen Gebieten Preußens und Bayerns galt, die von 1795 bis 1815 zu Frankreich gehört hatten.

Obwohl das ALG erst 1794 eingeführt worden war, erwies es sich in vieler Hinsicht doch bald als überholt, was vor allem den rasanten gesellschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts geschuldet war. Das ALG fußte zu wesentlichen Teilen im aufgeklärten Absolutismus Friedrichs des Großen und atmete nicht nur den Geist des 18. Jahrhunderts, sondern beruhte auch auf einer Ordnung der Dinge, die mit der französischen Revolution, den napoleonischen Kriegen und der beginnenden Industrialisierung so längst nicht mehr bestand. Andere deutsche Staaten hatten dieser Entwicklung bereits in vielerlei Hinsicht Rechnung getragen und moderne Gesetze eingeführt. Preußen stemmte sich dagegen mit Macht gegen die für schädlich gehaltenen Entwicklungen, die das alte Selbstverständnis der Herrschenden bedrohten. Ein wesentlicher Faktor für die Beibehaltung des ALG war auch der Respekt vor der Persönlichkeit und dem Genius Friedrichs des Großen, der in vieler Hinsicht nach wie vor als das Maß aller Dinge galt.

Es hatte bereits seit längerer Zeit Bestrebungen gegeben, das Strafrecht aufzuwerten und zu modernisieren. Schon 1805 war die Absicht angedeutet worden, den Strafrechtsteil des ALG in ein eigenständiges Gesetz auszukoppeln, aber erst ab 1826 wurden ernsthaftere Anstrengungen in dieser Richtung unternommen, die jedoch an den revisionistischen und restaurativen Strömungen dieser Zeit scheiterten. Immerhin wurde eine Kommission eingesetzt, die einen Entwurf für ein neues Strafrecht erarbeiten sollte, und 1847 war dem König bereits ein Entwurf für ein neues StGB vorgelegt worden, der nach der Revolution endlich mit geringen Änderungen umgesetzt werden konnte.

Das preußische StGB von 1851

In den neuen Entwurf wurden die Strukturen und Begrifflichkeiten des Preußischen Allgemeinen Landrechts wurden in vieler Hinsicht übernommen. So besaß auch der entsprechende Teil des ALG bereits eine grobe Unterteilung in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil, und zahlreiche Tatbestandsmerkmale und Definitionen wurden ebenfalls beibehalten. Der Gewahrsamsbruch (damals noch Bruch der Gewere) als Tatbestandsvoraussetzung des Diebstahls ist z.B. bereits in ähnlicher Form im ALG vorhanden. Es ist ebenfalls zu bemerken, dass dem Schutz des Königs und der öffentlichen Ordnung im neuen Gesetz nach wie vor eine erhebliche Bedeutung zukam, was in den auf revolutionären Vorbildern fußenden Strafgesetzbüchern Bayerns und des Rheinlands nicht so war. Vieles wurde jedoch komplett verändert. Zum Beispiel wurde das in Preußen schon von Friedrich dem Großen verfochtene Rechtsstaatsprinzip verankert, so dass die Vorschriften des Gesetzes und das Strafverfahren fortan rechtsstaatlichen Anforderungen genügten. An Stelle des allgemeinverständlicheren Textes des ALG traten stärker abstrahierte Vorschriften mit einem Allgemeinen und einem Besonderen Teil, welche die Tätigkeit der Juristen erleichterten und auch die oft drastischen Strafen des ALG wurden ganz wesentlich vermindert. So wurden die bisherigen Ehrenstrafen, die Körperstrafen und geschärfte Todesstrafen abgeschafft.

Die Todesstrafe

Zum damaligen Zeitpunkt zweifelte kaum jemand am Sinn der Todesstrafe, die damals selbstverständlicher Teil fast jeder Strafrechtsordnung war. Jedoch hatte sich das Verständnis dieser Strafform damals schon verändert, so dass ihre Verwendung bereits stark eingeschränkt worden war. Der noch immer gebräuchliche Ausspruch „So schnell schießen die Preußen nicht“ kam nicht von ungefähr, da die Politik der Landersherren bereits seit längerer Zeit vorsah, die Vollstreckung der Todesstrafe auf das als notwendige Mindestmaß zu beschränken, und zur gleichen Zeit experimentierten die Habsburger bereits mit einer völligen Aufhebung der Todesstrafe.

Mit dem neuen Strafgesetzbuch wurde die Todesstrafe reformiert. An die Stelle der bisher üblichen Hinrichtungsarten wie dem Rädern, Verbrennen und Erhängen, die zudem öffentlich vollstreckt wurden, trat die Hinrichtung durch Enthauptung an einem abgeschiedenen Ort, wo neben dem Verurteilten, dem Henker, einigen Zeugen und bis 1877 auch Zuschauern, einem Priester und dem Wachpersonal nur das Gericht anwesend war. Bemerkenswert ist auch, dass die Enthauptung in verschiedenen Landesteilen auch in verschiedener Weise vollstreckt wurde: im Rheinland wurde in französischer Tradition die Guillotine verwendet, in anderen Landesteilen dagegen das Beil.

Schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor die Todesstrafe landesweit an Boden. Vor Einführung des StGB im ganzen Reich war sie bereits in einigen Staaten abgeschafft, und viele Stimmen sprachen sich damals für einen komplette Abschaffung aus, was aber am Veto Bismarcks scheiterte. Einige der damals regierenden Herrscher ließen die vom Gericht verhängten Todesstrafen regelmäßig nicht vollstrecken, so fertigte der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm I., dem die Bestätigung der Urteile und ggf. Begnadigung der Delinquenten in Preußen oblag, in den Jahren 1868 bis 1878 kein einziges Todesurteil aus, und sein bayerischer Amtskollege tat es ihm gleich. Erst unter Wilhelm II. wurden wieder mehr der verhängten Todesurteile vollstreckt, da er „der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen“ wollte, doch auch er begnadigte regelmäßig Todeskandidaten.

Übetrtetungen

Im Unterschied zum heutigen Strafgesetzbuch enthielt das preußische StGB auch viele Tatbestände, die heutzutage im Ordnungswidrigkeitengesetz zu finden sind und erst im Zuge der Strafrechtsreform der 1970er Jahre aus dem StGB ausgeklammert wurden. Analog dazu kannte das preußische StGB neben der noch heute gebräuchlichen Einteilung der Straftaten in Verbrechen und Vergehen noch eine dritte Kategorie, die Übertretung, die heute sämtlich in das OWiG verlagert wurden.

Straftheorien und Strafvollstreckung

Auch wurden verschiedentlich andere Strafrahmen und Strafformen angewandt. Die Auffassungen von der Bestrafung beruhten weitestgehend auf der Vergeltungstheorie, eine Resozialisierung war nicht vorgesehen. So war der Diebstahl von landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit vergleichsweise harten Strafen belegt, was sich aus der damaligen Situation mit vergleichsweise niedriger landwirtschaftlicher Produktion ergab. Die Geldstrafe, die heute die verbreitetste Strafform darstellt, war nur in sehr wenigen Fällen vorgesehen, da zu dieser Zeit noch eine andere Strafmoral mit Bevorzugung der Haftstrafe herrschte und viele Verurteilte kaum Geld hätten aufbringen können, um ihre Strafe zu bezahlen. Stattdessen wurden oft kurzzeitige Freiheitsstrafen von einigen Tagen oder Wochen verhängt, von denen man heute abgekommen ist, um den Straftäter nicht wegen Bagatelldelikten aus seinem Umfeld zu reißen und im Gefängnis möglicherweise weiter zu kriminalisieren.

Freiheitsstrafen

Die heutige Freiheitsstrafe war in verschiedene Formen untergliedert. Man unterschied zwischen Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Festungshaft. Das Zuchthaus war die schwerste Form und umfasste einen strafverschärfenden Arrest und eine Arbeitspflicht für die Häftlinge, außerdem galt sie als entehrend. Gefängnis war mit der heutigen Freiheitsstrafe vergleichbar. Eine Sonderrolle nahm die Festungshaft ein, die als ehrenvolle Form der Freiheitsstrafe galt und vor allem auf Angehörige des Adels und Duellanten sowie andere Gefangene, denen man einen höheren Status zuerkannte, angewandt wurde. Sie wurde zumindest anfangs in den noch zahlreich vorhandenen Festungen vollstreckt, später auch in gewöhnlichen Haftanstalten, jedoch unter weniger scharfen Bedingungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch die Einschließung ersetzt, und mit der Strafrechtsreform der 1970er Jahre fielen die unterschiedlichen Formen der Freiheitsstrafe, die in der Praxis ohnehin kaum noch Bedeutung hatten, endgültig weg.

Ehrenstrafen

Eine heute nicht mehr gebräuchliche Strafe war die Ehrenstrafe. Statt älterer Formen wie dem Pranger sah das preußische StGB von 1851 die Strafe des Verlusts der bürgerlichen Ehrenrechte vor, die in einer Zeit, in der öffentliches Ansehen für die meisten Menschen einen deutlich höheren Stellenwert einnahm als heutzutage, durchaus ein scharfes Schwert darstellte. Dazu gehörte neben dem auch heute noch möglichen Ausschluss von öffentlichen Ämtern auch das Verbot, Familien- und Vormundschaftsrechte auszuüben, aber auch das Recht, die Landesfarben Preußens oder Waffen zu tragen. Vor dem Hintergrund der Adelsherrschaft war die Möglichkeit, Bestraften einen Adelstitel abzuerkennen, geradezu revolutionär zu nennen. Diese Strafe erstreckte sich sogar auf die Ehefrau und die nachgeborenen Kinder des Bestraften.

Ausweitung auf das Deutsche Reich

Das neue Strafgesetzbuch wurde 1851 eingeführt und erwies sich als sehr brauchbar. Mit der Schaffung des Norddeutschen Bundes nach dem Deutschen Krieg von 1866, in dem Preußen sich einige seiner Gegner wie das Königreich Hannover und das Kurfürstentum Hessen einverleibte, wurde es mit geringen Änderungen 1868 auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt, und nach der Gründung des Kaiserreichs 1871, das seinerseits lediglich eine Auweitung des Norddeutschen Bundes auf Süddeutschland mit geringen Änderungen darstellte, wurde es am 1. Januar 1872 auch in den süddeutschen Staaten in Kraft gesetzt.

Die Entwicklung des Strafgesetzbuches bis heute

Kaiserreich und Weimarer Republik

Im Verlauf der mehr als 140 Jahre seiner Geltung erfuhr das StGB viele Änderungen und Reformen. Schon im Kaiserreich rückte man von der Vergeltungstheorie zunehmend ab und stellte den Erziehungsgedanken in den Vordergrund, und auch der Gedanke der Sicherungsverwahrung wurde bereits entwickelt. Das Alter der Strafmündigkeit setzte man von 12 auf 14 Jahre herauf und bereitete die Einführung eines gesonderten Jugendstrafrechts mit dem dazugehörigen Jugendgerichtsgesetz vor. Viele dieser 1909 und 1913 vorgeschlagenen Reformen wurden aufgrund des Ersten Weltkrieges allerdings erst während der Weimarer Republik umgesetzt.

Der weitblickende Jurist Gustav Radbruch legte schon1922 den Entwurf eines reformierten Strafrechts vor, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war und viele erst später eingeführte Regelungen vorwegnahm, wie z.B. die Abschaffung der Todesstrafe und der Ehrenstrafen sowie die vermehrte Verhängung von Geldstrafen und den Wegfall der Strafbarkeit homosexueller Handlungen, die teilweise erst in der großen Strafrechtsreform der 70er Jahre umgesetzt wurden. Wegen zahlreicher Streitigkeiten über den von vielen als zu fortschrittlich empfundenen Entwurf und der zunehmenden Instabilität der Demokratie wurde der Entwurf jedoch zuerst verwässert und dann aufgrund der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ nicht umgesetzt.

NS-Diktatur

Die Nationalsozialisten betrieben mit allen Mitteln die Verkehrung des rechtsstaatlichen Strafrechtes in sein Gegenteil und legten völlig andere Maßstäbe an. Ähnlich wie beim BGB betrieben die Nationalsozialisten die Umwidmung des Rechtes in ihrem Sinne nicht so sehr durch den Ersatz von einzelnen Vorschriften, sondern durch die in ihrem Sinne veränderte Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln sowie die Abschaffung einiger grundlegender Prinzipien, die das ganze bisherige Recht ad absurdum führten. Währenddessen wurde an einem neuen NS-Strafrecht gearbeitet, welches das bisher geltende Recht zu gegebener Zeit ersetzen sollte. Ein erster Entwurf erschien bereits 1936, wurde jedoch aufgrund des Zweiten Weltkriegs nicht umgesetzt und auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben.

So wurden der Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ sowie und das Analogie- und das Rückwirkungsverbot fallen gelassen, und statt auf die Tathandlung sollte die strafrechtliche Würdigung einer Tat auf die in der Straftat enthaltenen „Willensschuld“ aufbauen. Das ganze Strafrecht sollte letzten Endes darauf ausgerichtet sein, die „Volksgemeinschaft“ zu schützen. Eine von Jurastudenten zu dieser Zeit auswendig zu lernende Formel, auf welche Weise dieser Schutz zu bewerkstelligen sei, bringt die NS-Vorstellungen vom Strafrecht auf den Punkt: „durch die Ausmerzung entarteter oder sonst für die Volksgemeinschaft verlorener und durch die Entsühnung gestrauchelter, aber für die Gemeinschaftsaufgaben noch einsetzbarer … Gemeinschaftsglieder“. Die omnipräsente Politik der Ausgrenzung Einzelner und der Betonung der vom Willen der Partei gesteuerten totalitären „Volksgemeinschaft“ gegenüber dem Individuum ist auch hier klar erkennbar.

Eine weitere generelle NS-Tendenz spiegelt sich in der Schaffung einer Generalklausel wieder, welche vom Gesetz nicht mit Strafe bedrohte Handlungen dennoch strafwürdig machen, sofern der „Grundgedanke eines Strafgesetzes“ sowie das „gesunde Volksempfinden“ dies erforderten. Der Volksmund reagierte auf diese krasse Zurschaustellung parteilicher Willkür mit dem ebenso bissigen wie treffenden Entwurf für ein neues NS-Strafgesetzbuch, das nur noch aus drei Vorschriften bestehen sollte:

§1. Wer etwas unternimmt oder unterlässt, wird bestraft.

§2. Die Strafe richtet sich nach dem gesunden Volksempfinden.

§3. Das gesunde Volksempfinden wird vom zuständigen Gauleiter festgelegt.“

Immerhin wurden während der NS-Zeit auch einige Änderungen eingeführt, die zum Teil bereits in der Weimarer Zeit entworfen worden waren und die allgemeine Tendenz nicht teilten. Dazu zählten beispielsweise der Vollrausch-Tatbestand, die Einwilligung des Verletzten sowie das unerlaubte Entfernen vom Unfallort. Auch der damalige Modetatbestand der „Autofalle“, heute § 316a, hat sich bis heute gehalten.

Die Todesstrafe im „Dritten Reich“

Eines der hervorstechendsten Merkmale des NS-Strafvollzuges war die massive Ausweitung der Anwendung der Todesstrafe.Von 1933 bis 1945 wurde die Zahl der mit der Todesstrafe als Regelstrafe bedrohten Verstöße allmählich immer weiter erhöht, bis es schließlich 77 waren – das Kaiserreich hatte lediglich drei Tatbestände mit der Todesstrafe bedroht. Ab 1944 genügte das „gesunde Volksempfinden“ als Begründung für die Anwendung der Todesstrafe bei jeder Straftat. Die Justiz verhängte während der zwölf Jahre der Diktatur 16.560 Todesurteile, davon nur 664 vor Kriegsbeginn, von denen etwa 12.000 vollstreckt wurden, und allein der berüchtigte Volksgerichtshof sprach 5.243 Todesurteile aus.

Neben der ungeheuren Zahl der Hinrichtungen führten die Nationalsozialisten auch abgeschaffte Hinrichtungsformen wie das Erhängen wieder ein, die vor allem bei Delinquenten verwendet wurden, die man als ehrlos betrachtete. In manchen Fällen wurden besonders grausame Formen dieser Hinrichtungsmethode verwendet, so wurden viele der Mitglieder des Widerstandsgruppe Rote Kapelle und Verschwörer des 20. Juli mit Schlingen aus Fleischerhaken an Klaviersaiten oder Strangulieren hingerichtet worden, und Hitler ließ die Vollstreckung dieser Urteile filmen und photographieren.

Da Hitler in seiner Programmschrift Mein Kampf die Ansicht geäußert hatte, die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg sei ganz wesentlich durch eine zu zögerliche Verwendung der Todesstrafe verursacht worden, wurde sie logischerweise besonders in den letzten Kriegsjahren, als der Krieg schon längst verloren war, zur Aufrechterhaltung der Disziplin massiv angewendet, um ein „neues 1918“ zu verhindern. Militärgerichte und Standgerichte verhängten zahlreiche Todesurteile, Schätzungen bewegen sich zwischen 20.000 und 33.000, wobei laut letzterer Schätzung davon 89% auch vollstreckt wurden.

Zum Vergleich: Im Kaiserreich wurden während der Regierungszeit Wilhelms II. pro Jahr durchschnittlich 370 Todesurteile gefällt, von denen aber nur etwa 25 vollstreckt wurden, unter der Regierung seines Großvaters Wilhelm I. war die Zahl noch wesentlich niedriger gewesen. Im Ersten Weltkrieg wurden in den deutschen Streitkräften lediglich 150 Todesurteile vollstreckt, die meisten wegen Fahnenflucht. In der Weimarer Republik kam es von 1919 bis 1932 zu 1.141 Todesurteilen, von denen aber nur 183 tatsächlich vollstreckt wurden, die meisten davon in den unruhigen Gründungsjahren bis 1923.

Nach 1945

Nachkriegsentwicklung im Westen

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele der von den Nationalsozialisten eingeführten Gesetzesänderungen vom Alliierten Kontrollrat rückgängig gemacht. Der Eiserne Vorhang spaltete auch das deutsche Strafrecht in zwei Teile. Im Westen wurde die Todesstrafe nach den Exzessen der Nationalsozialisten 1949 endgültig abgeschafft, und die Reformbemühungen der Weimarer Zeit wurden wieder aufgenommen. Erste Schritte waren die Einführung des heutigen Jugendgerichtsgesetzes sowie der Strafaussetzung auf Bewährung, und 1954 wurde eine große Kommission mit der Ausarbeitung eines neuen Entwurfs für ein reformiertes Strafrecht betraut. Das Ergebnis wurde 1962 vorgelegt und bildete zusammen mit einem Gegenentwurf 14 Strafrechtsprofessoren von 1966 den Grundstock für die große Strafrechtsreform der 1970er Jahre, in welcher der Allgemeine Teil vollständig und der Besondere Teil teilweise überarbeitet wurde. Darin wurde die kurzzeitige Freiheitsstrafe (unter 6 Monate Dauer) abgeschafft, und an die Stelle von Zuchthaus, Gefängnis und Einschließung trat die Einheitsfreiheitsstrafe. Die Veränderung von Moral und Gesellschaft schlug sich auch im Strafrecht nieder. Die Strafbarkeit der Homosexualität verschwand nach und nach, und Straftaten gegen die Umwelt sowie Geldwäsche, Vermögensstrafe und Computerkriminalität wurden mit den sich verändernden technischen und wirtschaftlichen Verhältnissen neu eingeführt.

Entwicklung des Strafrechts in der DDR

Im Osten nahmen die Dinge eine andere Wendung. Ein rechtsstaatliches Verfahren war in der DDR nicht gewährleistet. Eine unabhängige Justiz gab es nicht, da auch die Gerichte dem höheren Ziel der „Verwirklichung des Sozialismus“ zu dienen hatten, womit hauptsächlich die Alleinherrschaft der SED gemeint war. Oftmals stand das Urteil daher bereits lange vor der Verkündung fest. Dabei gab es jedoch graduelle Unterschiede. Im Zivilrecht, dessen Stellenwert im Sozialismus ohnehin relativ niedrig anzusetzen war, wurde einigermaßen voraussehbar Recht gesprochen. Das Strafrecht war dagegen ein wesentliches Instrument der Herrschaftssicherung und Unterdrückung oppositioneller Kräfte, so dass bei politisch motivierten Taten und der Staatsführung missliebigen Angeklagten oft reine Willkür herrschte.

Das Strafgesetzbuch der DDR

Bis 1968 blieb eine veränderte Version des alten StGB in Kraft, danach wurde ein völlig neues Strafgesetzbuch der DDR eingeführt. Zu seinen hervorstechenden Merkmalen gehörten die Betonung des Herrschaftsanspruchs der SED sowie eine Anzahl von Vorschriften, welche vor allem zur Unterdrückung missliebiger Personen und Oppositioneller dienten. Ähnlich der entsprechenden Vorschriften während der NS-Zeit waren sie extrem weit gefasst und eigneten sich daher bestens zur Auslegung im Sinne der Anklage und somit als repressive Instrumente. In erster Linie waren dies die Vorschriften „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ (die berühmt-berüchtigte „Republikflucht“), „Rowdytum“,  „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ (hauptsächlich mit dem „nichtsozialistischen Ausland“) sowie „Geheimnisverrat“. Daneben existierten verschiedene Werkzeuge zur Verfolgung politischer Straftaten, die im Kapitel „Straftaten gegen die DDR“ geregelt waren. Die Strafdrohungen waren oft drastisch, und im Verhör wurden zuweilen Foltermethoden eingesetzt. Die Todesstrafe, die im Westen bereits seit 1949 abgeschafft war, wurde in der DDR erst seit 1981 nicht mehr vollstreckt und erst 1987 völlig abgeschafft. Außerdem trat das MfS (neben Staatsanwaltschaft und Zoll) selbst als Anklagebehörde auf. Manche mit Strafe bedrohten Vorschriften waren lediglich im Gesetz enthalten, um den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren, wurden aber systematisch ignoriert, wie z.B. die Festschreibung des Postgeheimnisses, obwohl sämtlicher Postverkehr standardmäßig überwacht wurde.

Zu den Merkwürdigkeiten der Rechtspflege in der DDR zählt der Umstand, dass es nur sehr wenige Rechtsanwälte gab, die zu einem großen Teil vom Regime handverlesen waren und mehrheitlich freiwillig oder unfreiwillig für die Staatssicherheit arbeiteten. Eine weitere strafrechtliche Besonderheit stellte der Freikauf von Gefangenen durch die Bundesrepublik dar. Zum Teil wurden gezielt Verhaftungen vorgenommen und langjährige Haftstrafen ausgesprochen, damit die DDR auf diese Weise ihre stets knappen Devisenreserven auffüllen konnte.

Mit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und der Wiedervereinigung in den Jahren 1989/90 wurde das DDR-Strafrecht in den neuen Bundesländern wieder durch das StGB ersetzt.

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In den über 160 Jahren seiner Geltung hat das StGB mit den massiven Veränderungen der Gesellschaft und Deutschlands selbst stets Schritt zu halten vermocht. Vom absolutistischen Preußen kurz nach der gescheiterten 48er-Revolution bis zum demokratischen Deutschland des 21. Jahrhunderts war es in mehr als einer Beziehung ein weiter Weg, doch trotzdem erkennt man auch im heutigen Gesetz noch vieles von dem wieder, was auch bei seiner Entstehung schon galt. Das Strafrecht wird sich auch künftig stets neu erfinden müssen, um den sich stetig verändernden Anforderungen gerecht zu werden, ohne dabei die Grundprinzipien und Aufgaben aus den Augen zu verlieren, wegen derer es geschaffen wurde.

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