Das Organstreitverfahren

Das Organstreitverfahren; Schema und Beispielsfall

Datum
Rechtsgebiet Staatsorganisationsrecht
Ø Lesezeit 15 Minuten
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In der Fallbearbeitung sieht sich der Bearbeiter oft mit der Frage nach den Erfolgsaussichten eines Verfahrens vor dem BVerfG konfrontiert. Das Organstreitverfahren gemäß Art. 93 I Nr.1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG ist eines dieser Verfahren. Es stellt eine verfassungsgerichtliche Innenrechtsstreitigkeit kontradiktorischer Art zwischen einem Antragssteller und einem Antragsgegner dar.

In der Regel begehrt der Antragssteller vom BVerfG die Feststellung, dass er durch eine Maßnahme des Antragsgegners in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist.

Der folgende Beitrag legt sowohl die Zulässigkeit als auch die Begründetheit des Organstreitverfahrens dar und zeigt am Ende einen Beispielsfall.

A. Zulässigkeit des Antrags

I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 I Nr. 1 GG)

Gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG entscheidet das BVerfG über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über dem Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.

Das Organstreitverfahren ist also ein kontradiktorisches Verfahren zwischen obersten Bundesorganen (bzw. Teilen derselben) über die ihnen durch das Grundgesetz zugewiesenen Rechte und Pflichten (Kompetenzen).

II. Ordnungsgemäßer Antrag

Der Antrag ist gemäß § 23 I BVerfGG schriftlich einzureichen und zu begründen. Zwar statuiert § 64 II BVerfGG die Pflicht, die Bestimmung des Grundgesetzes zu benennen, gegen die die Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen haben soll, es genügt jedoch, wenn sie sich aus dem Inhalt der Begründungsschrift entnehmen lässt.

III. Beteiligungsfähigkeit / Parteifähigkeit (Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)

Die Prüfung der Parteifähigkeit kann problematisch sein, da die entscheidenden Normen – Art. 93 I Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG – insoweit nicht deckungsgleich sind. Sie verhalten sich zueinander wie zwei sich überschneidende Kreise, d.h. § 63 BVerfGG ist zum einen weiter, zum anderen enger als Art. 93 I Nr. 1 GG.

Während § 63 BVerfGG die parteifähigen Organe enumerativ aufzählt, stellt die Regelung des Art. 93 I Nr. 1 GG auf alle obersten Bundesorgane und auch auf andere Beteiligte ab. Auf der anderen Seite erweitert § 63 BVerfGG die Parteifähigkeit im Gegensatz zu Art. 93 I Nr. 1 GG auch auf Teile der genannten Organe.

Der Ausweg aus diesem Konflikt erfolgt in einer verfassungskonformen Auslegung des § 63 BVerfGG. Die Erweiterung der Parteifähigkeit auf Organteile wird als zulässige Interpretation des Art. 93 I Nr. 1 GG angesehen. Die Beschränkung des § 63 BVerfGG auf den enumerativ aufgezählten Kreis wird hingegen als nicht verfassungsgemäß aufgefasst. Somit können alle obersten Bundesorgane und auch andere Beteiligte i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG ihre Parteifähigkeit direkt aus dem Grundgesetz herleiten. Auch Organteilen wird die Parteifähigkeit zugesprochen.

1. Parteifähigkeit (+)

  • Bundespräsident
  • Bundestag
  • Bundesrat
  • Bundesregierung
  • Bundeskanzler
  • Bundestagspräsident
  • Bundesratspräsident
  • Ausschüsse
  • Fraktionen
  • Mitglieder der Bundesregierung
  • Abgeordnete bei Wahrnehmung eigener Rechte aus dem Abgeordnetenstatus
  • Fraktionen in Untersuchungsausschüssen
  • Bundesversammlung
  • Parteien, bei Wahrnehmung von Rechten aus dem Grundgesetz

2. Parteifähigkeit (-)

  • Das „Volk“ als solches
  • Der einzelne Bürger
  • Bundesrechnungshof
  • Bundesbank
  • Wehrbeauftragter des Bundestages
  • Bundesverfassungsgericht
  • Abgeordnete, sofern sie Rechte des Gesamtorgans Bundestag wahrnehmen

Bsp. zur Parteifähigkeit: Der Bundespräsident möchte die Nationalhymne ändern. Statt des Deutschlandliedes soll John Lennons Song „Give peace a chance“ als Nationalhymne dienen. Gemäß einer entsprechenden Anordnung, die von der Bundeskanzlerin gegengezeichnet wurde (vgl. Art. 58 S. 1 GG), ordnet der Bundespräsident an, dass die neue Nationalhymne ab dem 01.10.2017 gelten solle.

Die X-Partei im deutschen Bundestag, welche sich zur X-Fraktion zusammengeschlossen hat, sieht darin einen Verfassungsverstoß. Der Bundespräsident könne nicht durch Anordnung die Nationalhymne ändern. Hierzu sei der Bundestag berufen, er sei in seiner Gesamtheit der Vertreter des deutschen Volkes.

Statthaft ist ein Organstreitverfahren.

Streitgegenstand ist die Neufestsetzung der Nationalhymne.

Fraglich ist die Parteifähigkeit der X-Partei. Wenn eine Rechtsverletzung vorliegt, dann gegenüber dem Bundestag als Verfassungsorgan. Die X-Partei ist als X-Fraktion lediglich Teil dieses Organs. Gleichwohl ist den Fraktionen als Teil des Organs Bundestag gemäß § 63 BVerfGG gestattet, in Prozessstandschaft gemäß § 64 I BVerfGG Rechte des Organs dem sie angehören, wahrzunehmen. Die X-Fraktion ist deshalb beteiligtenfähig und auch antragsbefugt. 

IV. Antragsgegenstand

Antragsgegenstand ist gemäß § 64 I BVerfGG eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners, die rechtserheblich ist. Der Begriff der Maßnahme ist weit auszulegen. Es können nicht nur Einzelmaßnahmen, sondern beispielsweise auch Gesetzgebungsverfahren angegriffen werden (nicht aber eine Norm selbst, da insoweit Art. 93 I Nr. 2 GG einschlägig ist).

Die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners ist rechtserheblich, wenn zwischen den Parteien eine konkrete Meinungsverschiedenheit über verfassungsrechtliche Rechten und Pflichten besteht.

Beispiele von konkreten verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten:

  • Nichtzuerkennung des Fraktionsstatus
  • Beschluss des Parlaments, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen
  • Beschluss eines Ausschusses selbst
  • Erlass eines Gesetzes oder das Unterlassen das Gesetz zu erlassen
  • Besetzung von Ausschüssen mit Abgeordneten durch den Bundestag
  • Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG durch den Bundespräsidenten

Klausurtipp: Da die erforderliche Rechtserheblichkeit nur dann bejaht werden kann, wenn der Antragssteller durch die Maßnahme bzw. Unterlassung in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten betroffen ist, kann sie auch erst im Rahmen der Antragsbefugnis erörtert werden. Wird sie bereits im Rahmen des Antragsgegenstandes erörtert, sollte bei der Antragsbefugnis dennoch ein kurzer Hinweis dergestalt erfolgen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die rechtserhebliche Maßnahme den Antragssteller in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten beeinträchtige.

V. Antragsbefugnis

Gemäß § 64 I BVerfGG muss die Möglichkeit einer Rechtsverletzung bzw. –gefährdung bestehen (sog. Möglichkeitstheorie). Ob eine solche Verfassungsrechtsverletzung oder –gefährdung tatsächlich vorliegt, wird allerdings nicht in der Zulässigkeit, sondern in der Begründetheit geprüft!

Diese Rechtsposition muss sich nach dem Normtext aus dem Grundgesetz ergeben. Es genügen also, anders als bei der Beteiligungsfähigkeit, keine Rechte aufgrund einer Geschäftsordnung. Da die Beteiligten nicht als natürliche Personen auftreten, können sie insbesondere keine Grundrechte geltend machen. Der Antragssteller ist also nur dann antragsbefugt, wenn er eine Rechtsverletzung geltend macht, die sich aus seiner organschaftlichen Stellung ergibt. Dies werden in erster Linie Kompetenzübergriffe des Antragsgegners sein.

Bsp.: Abgeordneter A hat über einen längeren Zeitraum illegale Parteispenden entgegengenommen. Um den Sachverhalt umfassend aufzuklären, setzt der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein. A ist der Auffassung, die Einsetzung des Untersuchungsausschusses greife in unzulässiger Weise in sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 2 I GG). Darüber hinaus sei er an der freien Ausübung seines Mandats (Art. 38 I S. 2 GG) gehindert.

Sofern sich A auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beruft, ist der Organstreit unzulässig, da dieser die Geltendmachung einer Verletzung von organschaftlichen Rechten voraussetzt. Grundrechte begründen keine organschaftlichen Rechte. Etwas anderes gilt im Hinblick auf Art. 38 I S. 2 GG. Dort ist der verfassungsrechtliche Status als Abgeordneter verankert. Sofern eine Verletzung dieses verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus nicht ausgeschlossen werden kann, ist A antragsbefugt.

Darüber hinaus kann sich der Antragssteller gemäß § 64 I BVerfGG auch auf Rechtspositionen berufen, die dem Organ zustehen, welchem er angehört. Hierbei handelt es sich um einen Fall der gesetzlichen Prozesstandschaft, da der Antragssteller im eigenen Namen fremde Rechte geltend machen kann. Mit Blick auf die Rechte des Bundestages sollen allerdings nur Fraktionen zu ihrer Geltendmachung befugt sein, nicht hingegen der einzelne Bundestagsabgeordnete.

VI. Antragsgegner

Richtiger Antragsgegner ist das Organ/ der Organteil, welcher für die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung die Verantwortung trägt.

VII. Antragsfrist

Gemäß § 64 III BVerfGG besteht eine sechsmonatige Frist. Liegt die beanstandete Maßnahme im Erlass gesetzlicher Vorschriften, so beginnt die Frist mit der Verkündung des Gesetzes. Beim Unterlassen startet die Frist, wenn die Erfüllung der Handlungspflicht ernstahft und endgültig verweigert wird.

VIII. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

Schließlich muss ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Wurde allerdings die Antragsbefugnis bejaht, wird in der Regel auch das Rechtsschutzbedürfnis gegeben sein, sodass es einer Prüfung dann nicht bedarf.

Ein Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses kommt dann in Betracht, wenn:

  • Es einfachere Möglichkeiten gibt, das Recht zu verteidigen, etwa wenn der Antragssteller Rechtsverletzungen durch eigenes Verhalten hätte vermeiden können
  • Die Beschwer entfallen ist, die Sache sich also erledigt hat (obwohl es durchaus angebracht sein kann, abgeschlossene Tatbestände einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen, insbesondere dann, wenn eine rechtsbeeinträchtigende Wirkung für die Zukunft besteht)
  • Keine Wiederholungsgefahr besteht

In diesen Fällen muss das Rechtsschutzbedürfnis geprüft und ggf. verneint werden.

B. Begründetheit

Der Antrag im Organstreitverfahren ist nach § 67 S. 1 BVerfGG begründet, soweit die angegriffene Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verfassungswidrig ist. Ein einhelliges Schema für die Begründetheit zu verfassen ist schwerlich möglich. In der Begründetheit können die verschiedensten Variationen auftauchen. Ein (grobes!) Orientierungsschema lautet wie folgt:

I. Rechtsposition des Antragsstellers

Ein durch das Grundgesetz übertragenes Recht (§ 64 I BVerfGG).

II. Beeinträchtigung (Eingriff, Verletzung)

Handlung oder Unterlassung des Antragsgegners.

III. Rechtfertigung

1. Durch Grundgesetz

  • Grundgesetznormen (ggf. praktische Konkordanz)
  • Staatsstrukturprinzipien

2. Ggf. durch Gesetz oder Rechtsverordnung

a. Formelle Verfassungsmäßigkeit

aa. Zuständigkeit
  • Verbandskompetenz (Art. 70 ff. GG)
  • Organkompetenz (Art. 77 I 1, 80 I 1 GG)
bb. Verfahren
  • Initiative (Art. 76 I, 80 I 1, III GG)
  • Beschluss (Art. 77 I, 80 I 1 GG)
  • Beteiligung des Bundesrates (Art. 77, 80 II GG)
cc. Form (Verkündung Art. 82 GG)

b. Materielle Verfassungsmäßigkeit

aa. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
bb. Verhältnismäßigkeit
  • Geeignetheit
  • Erforderlichkeit
  • Angemessenheit

Wichtig zu beachten ist, dass das Bundesverfassungsgericht lediglich die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme oder Unterlassung feststellt. Es ergeht also ein Feststellungsurteil. Eine Aufhebung der Maßnahme durch das Bundesverfassungsgericht kommt nicht in Betracht. Bei Begründetheit des Antrags ist der Antragsgegner jedoch verpflichtet, dem Urteil Folge zu leisten, da dieses alle Staatsorgane bindet.

Beispielsfall

Sachverhalt

Vor den Wahlen zum derzeit amtierenden Bundestag war in das BWahlG der folgende § 46a eingeführt worden:

§ 46a Ruhen des Mandats

(1)    Ein Abgeordneter, der Mitglied der Bundesregierung ist, kann gegenüber dem Präsidenten des Bundestages schriftlich erklären, dass sein Mandat für die Dauer seiner Amtszeit als Mitglied der Bundesregierun ruhen soll.

(2)    War der Abgeordnete auf einer Landesliste gewählt, übt während seiner Amtszeit als Mitglied der Bundesregierung der auf der Landesliste nächstberufene Bewerber das Mandat aus.

(3)    Endet die Zugehörigkeit eines Mitglieds der Bundesregierung, kann der Betroffene erklären, dass auch das Ruhen seines Mandats endet. In diesem Fall scheidet von mehreren aus einer Landesliste zur Ausübung des Mandats berufenen Bewerbern derjenige aus dem Bundestag aus, der als letzter berufen worden war.

(4)    Das Ruhen eines Abgeordnetenmandats, seine Ausübung durch einen Nachfolger, das Enden des Ruhen und das dadurch bewirkte Ausscheiden eines Bewerbers werden vom Bundeswahlleiter festgestellt.

Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die X-Partei so viele Stimmen, dass sie mit sehr knapper Mehrheit die Regierungsfraktion stellen kann. Bei dieser Bundestagswahl ist A als Abgeordneter der X-Partei in den Bundestag gewählt worden. Anschließend wurde er vom Bundeskanzler als Bundesminister ernannt. Nun klagt A über die ständige Arbeitsüberlastung. Er erklärt am 02.01.2013 gem. § 46a BWahlG, er wolle sein Bundestagsmandat ruhen lassen. Daraufhin ist gem. § 46a II BWahlG an seiner Stelle der nach der Landesliste der X-Partei „nächstberufene Bewerber“ B am 06.01.2013 in den Bundestag eingezogen.

Nach dem Einzug des B in den Bundestag steht für den 20.01.2013 die zweite Lesung eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes an. Am 07.01.2013 hatte B öffentlich erklärt, er wolle keinesfalls dieser geplanten Gesetzesänderung zustimmen.

Am 09.01.2013 erklärt Minister A vor Journalisten, er sei im Dauerstress, der mit der Ausübung eines Ministeramtes verbunden sei, nicht mehr gewachsen. Einen Tag später wird A auf seinen Wunsch hin auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten entlassen (Art. 64 GG). A erklärt dem Bundeswahlleiter schriftlich, er wolle sein Mandat gem. § 46a III BWahlG ab sofort wieder ausüben. Am 14.01.2013 stellt der Bundeswahlleiter das „Ende des Ruhens des Mandats“ von A und das Ausscheiden des Abgeordneten B aus dem Bundestag fest. Am 20.01.2013 wird das Änderungsgesetz zum Ausländergesetz mit der Stimme des A verabschiedet.

B hält § 46a BWahlG für verfassungswidrig, weil er mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar sei. Darüber hinaus sei er nicht mit dem freien Mandat des Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar.

Lösung:

Möglicherweise verstößt § 46a BWahlG tatsächlich gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, gegen das freie Mandat der Abgeordneten und gegen die Gleichheit des Mandats. Ein entsprechender Rechtsbehelf des B müsste zulässig und begründet sein.

A. Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht

I. Zuständigkeit des BVerfG

Auch hinsichtlich Bundestagsabgeordneten, die die Verletzung ihres Status aus Art. 38 I S. 2 GG (freies Mandat) geltend machen, ist zwar prinzipiell die Verfassungsbeschwerde denkbar (Art. 38 I S. 2 GG ist ein grundrechtsgleiches Recht). Soweit der einzelne Abgeordnete aber die Verletzung eines Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, behauptet, ist das Organstreitverfahren vor dem BVerfG gegenüber der Verfassungsbeschwerde der speziellere Rechtsbehelf.

II. Beteiligtenfähigkeit/Parteifähigkeit

B müsste auch legitimiert sein, den Antrag zu stellen (§ 63 BVerfGG). Fraktionen sind parteifähig, weil sie als Teil des Organs Bundestag mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Anders verhält es sich mit dem einzelnen Abgeordneten, der allenfalls ein Organmitglied nicht aber ein Organteil sein kann. Aber auch dieser ist parteifähig, obwohl er nicht in § 63 BVerfGG genannt ist, denn gem. Art. 93 I Nr.1 GG ist er ein „anderer Beteiligter“, der durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Die Ausstattung mit eigenen Rechten ergibt sich aus dem durch Art. 38 I S.2 GG garantierten verfassungsrechtlichen Status als Abgeordneter. B ist somit parteifähig.

III. Antragsbefugnis

Die Antragsbefugnis richtet sich nach § 64 I BVerfGG. Demgemäß muss B geltend machen, dass ihm ein Recht „zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung seiner Kompetenzen übertragen“ oder „seine Beachtung erforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen zu gewährleisten“. Dabei muss die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich sein (herrschende Möglichkeitstheorie).

B behauptet, § 46a BWahlG sei verfassungswidrig, weil dieser mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar sei. Darüber hinaus sei § 46a BWahlG nicht mit dem freien Mandat der Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar. Er macht somit geltend, dass er durch die Regelung des § 46a BWahlG in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt sei. Da diese geltend gemacht Rechtsverletzung möglich erscheint, ist B antragsbefugt.

Das Organstreitverfahren ist mithin zulässig.

B. Begründetheit des Organstreitverfahrens

I. Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl

Art. 38 I S.1 GG statuiert unter anderem den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. Dieser Grundsatz fordert nicht nur das Fernbleiben von Wahlmännern, sondern auch ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, wie sich die eigene Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann.

Fraglich ist daher die Verfassungsmäßigkeit des ruhenden Mandats, bei dem Mitglieder der Bundes- bzw. Landesregierung ihr Mandat ruhen lassen und bei Ausscheiden aus der Regierung unter Verdrängung des inzwischen nachgerückten Listenbewerbers wieder in den Bundes- bzw. Landtag eintreten können. Ein Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Wahl liegt allerdings noch nicht bei der Möglichkeit, das Mandat ruhen zu lassen, also noch nicht in der Möglichkeit des Ausscheidens aus dem Parlament und dem Nachrücken des nächsten Listenbewerbers. Ein Verstoß gegen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl liegt dann vor, wenn es im Belieben des Ausgeschiedenen steht, den Nachgerückten durch Wiedereintritt in das Parlament zu verdrängen.

Vorliegend ist die Möglichkeit des Ruhenlassens des Mandats in § 46a I BWahlG vorgesehen. Da dies noch nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstößt, ist die Vorschrift des § 46 a BWahlG nicht verfassungswidrig.

Etwas anderes könnte sich aber im Hinblick auf § 46a III BWahlG ergeben. Diese Vorschrift statuiert in Satz 1 das Recht des Abgeordneten, sein ruhendes Mandat wieder auszuüben. Bestimmte Anforderungen an das Wiederaufnehmen des Mandats stellt die Vorschrift nicht. Damit stellt sie die Aufnahme des Mandats in das Belieben des ausscheidenden Regierungsmitglieds. A macht es von seiner physischen und psychischen Konstitution abhängig, ob er sein niedergelegtes Mandat wieder aufnimmt. Diese – von § 46a III BWahlG gedeckte – Vorgehensweise verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. § 46a III BWahlG ist daher zu weit gefasst und verfassungswidrig.

II. Verstoß gegen das freie Mandat des Abgeordneten

Art. 38 I S. 2 GG garantiert die Freiheit des Abgeordneten. Die hier zu untersuchende Freiheit des Abgeordneten besagt, dass alle staatlichen Maßnahmen untersagt sind, die den Bestand und die Dauer des Mandats beeinträchtigen und die inhaltliche Bindung der Mandatsausübung herbeiführen oder sanktionieren. Daraus folgt, dass der Verlust des Abgeordnetenstatus keine Frage des einfachen Rechts ist, sondern durch die Verfassung selbst gehindert wird. Hat demnach ein Bewerber ein Mandat errungen, ist sein Status geschützt. Eine Regelung in BWahlG über den Verlust des Abgeordnetenmandats, wie dies § 46a III S.2 BWahlG vorsieht, ist daher verfassungswidrig.

III. Verstoß gegen die Gleichheit des Mandats

Schließlich statuiert Art. 38 I S. 2 GG den Anspruch der Abgeordneten auf Gleichheit des Mandats. Die Gleichheit der Abgeordneten verbietet Differenzierungen des verfassungsrechtlichen Status: „Alle Mitglieder des Parlaments sind formal gleichgestellt“. Gegen die Gleichheit des Mandates verstößt es daher, wenn ein Regierungsmitglied sein Mandat ruhen und bei Ausscheiden aus der Regierung wiederaufleben lassen kann. Da dies vorliegend § 46a III BWahlG zulässt, verstößt die Vorschrift auch gegen die Gleichheit des Mandats.

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IV. Ergebnis

Die Vorschrift des § 46a III BWahlG verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. Darüber hinaus ist sie nicht mit dem freien Mandat des Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar. Das von B beantragte Organstreitverfahren vor dem BVerfG ist somit zulässig und begründet.

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