Standardmaßnahmen und Zwang – Polizeirecht

Standardmaßnahmen und Zwangsbefugnisse im Polizeirecht Bayern und das Verhältnis von Sofortvollzug Art. 53 II PAG zur unmittelbaren Ausführung Art. 9 I PAG

Datum
Rechtsgebiet Öffentliches Recht (Bayern)
Ø Lesezeit 17 Minuten
Foto: Monika Gruszewicz/Shutterstock.com

In Polizeirechtsklausuren steht meist die Prüfung der Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen im Mittelpunkt. Das Auffinden der einschlägigen Standardbefugnisse aus den Vorschriften der Art. 12 – 29 PAG fällt den Klausurbearbeitern meist nicht schwer. Probleme ergeben sich häufig erst im Rahmen der zwangsweisen Durchsetzung der Maßnahmen. Dieser Artikel soll helfen, das System des Polizeirechts zu verstehen und damit ein genaues und sicheres Vorgehen in der Klausur zu ermöglichen.

A. Das Verhältnis der Standardbefugnisse zu den Vollstreckungsvorschriften

I. Das Grundproblem

Die Standardmaßnahmen berechtigen Polizeibeamte von dem Betroffenen ein Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern. So ermächtigen die Art. 12 ff. PAG unter anderem dazu Personen vorzuladen, in Gewahrsam zu nehmen, Wohnungen zu durchsuchen oder Sachen sicherzustellen. Den Formulierungen zufolge geht das Gesetz aber von einer problemlosen Durchführung und Umsetzung der Standardmaßnahmen aus. Die Realität sieht jedoch anders aus. Es können sich zahlreiche Hindernisse bei der Verwirklichung des rechtlichen Erfolges zeigen; so kann eine zu durchsuchende Wohnung verschlossen sein, Personen können sich gegen die Ingewahrsamnahme oder die Durchsuchung zur Wehr setzen. Aufgrund dessen muss geklärt werden, nach welchen Vorschriften und Voraussetzungen in diesen Fällen vorgegangen werden muss.

II. Können die Art. 12 ff. PAG (neben den Standardbefugnissen) auch Ermächtigungsgrundlage für die Vollstreckung sein?

Wie soeben erwähnt können Polizisten nach den Befugnissen der Art. 12 ff. PAG Maßnahmen zur präventiven Gefahrenabwehr ergreifen. Ungeschriebene Voraussetzung ist, dass der Maßnahmeadressat bei der Durchführung freiwillig mitwirkt. Auch dürfen der Durchführung der Maßnahme keine tatsächlichen Hindernisse, wie bspw. eine verschlossene Tür entgegenstehen. Stoßen die Beamten aber auf derartigen Widerstand, ist ein Erzwingen des rechtmäßigen Erfolges erforderlich (Art. 20 III GG).

Das körperliche Einwirken auf Personen, sowie das zwangsweise Vorgehen gegen Sachen sind dem Bereich der Eingriffsverwaltung zuzuordnen. Gerade in diesem grundrechtssensiblen Bereich muss eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage vorliegen, allein schon um dem Vorbehalt des Gesetzes zu genügen.

Es ist zu fragen, ob die Ermächtigung zu zwangsweisem Handeln unmittelbar den Standardbefugnissen der Art. 12 ff. PAG entnommen werden kann. So erlaubt bspw. Art. 21 PAG, sofern die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, die Durchsuchung von Personen. Problematisch ist nun, ob das „Durchsuchen“ nur dann möglich ist, wenn der Betroffene die Maßnahme duldet oder ob die Durchsuchung auch mithilfe von Zwang, sei es durch das Verhängen von Zwangsgeld oder durch unmittelbaren körperlichen Zwang durchgesetzt werden darf.

✱ Fallbeispiel

Zum besseren Verständnis noch ein weiteres Beispiel. Art. 16 PAG ermächtigt Personen vorübergehend von einem Ort „zu verweisen“. Das „Verweisen“ könnte eine nur mündliche Aufforderung zum Verlassen des Aufenthaltsortes umfassen oder aber auch das Entfernen der Person vom momentanen Standpunkt mithilfe von Zwang. Letzerer Fall käme freilich nur dann in Betracht, wenn sich der Betroffene weigert, der Anweisung nachzukommen. Der Einsatz von Zwang kann immer nur ultima-ratio sein.

Sieht man die Ermächtigung zur Zwangsanwendung nicht schon in Art. 21 PAG oder Art. 16 PAG müssen entweder die Art. 53 ff. PAG zusätzlich herangezogen werden oder sogar ausschließlich als Ermächtigungsgrundlagen für eine Zwangsanwendung gesehen werden. Um dieses Problem lösen zu können, muss ein Blick auf das System der Standardbefugnisse geworfen werden.

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1. Generelle Überlegungen

Würden die Standardbefugnisse bereits die Ermächtigung zur Durchführung der Maßnahme mittels Zwang enthalten wäre dies unter Praktikabilitätserwägungen sehr vorteilhaft, da zusätzliche vollstreckungsrechtliche Voraussetzungen nicht beachtet werden müssten. Betrachtet man den Wortlaut der Standardbefugnisse, der die Vornahme tatsächlicher Handlungen (wie bspw. Sicherstellen, Durchsuchen, Betreten) mit umfasst, so könnte man meinen, dass die Zwangsermächtigung schon in den jeweiligen Befugnisnormen zu sehen ist. So könnten Wohnungen betreten werden, sei es durch das freiwillige Öffnen durch den Bewohner, sei es durch das Herbeirufen eines Schlüsseldienstes oder im Eilfall auch durch das Eintreten der Tür. Sachen könnten durchsucht werden, die dem Polizisten vom Betroffenen ausgehändigt wurden oder die sich der Polizist unter Anwendung von Zwang vom Betroffenen verschafft hat.

Keine der Standardmaßnahmen der Art. 12 ff. PAG geht auf die Notwendigkeit einer zwangsweisen Durchführung der jeweiligen Maßnahme näher ein. Aus diesem Grund könnte der Rückschluss gezogen werden, dass mangels ausführlicher Erläuterungen zum zwangsweisen Vorgehen, allein die Standardmaßnahme vom Wortlaut gedeckt ist und Zwangsmaßnahmen nach einem gesonderten System beurteilt werden müssen.

a) Gesonderte Regelung der Vollstreckungsbefugnisse

Dafür spricht, dass sich der Gesetzgeber für ein differenziertes System entschieden hat, indem er die Vollstreckungsvorschriften in einem eigenen Abschnitt (Art. 53 ff. PAG) gesondert bzw. getrennt von den Standardmaßnahmen geregelt hat. Dieses Anliegen würde durch eine Ermächtigung direkt aus der Standardbefugnis umgangen.

b) Wesentlichkeitstheorie

Als weiteres Argument kann auf die Wesentlichkeitstheorie verwiesen werden. Danach müssen alle wesentlichen Fragen, gerade solche mit Grundrechtsbezug, vom Parlament selbst entschieden werden. Je schwerwiegender die Auswirkungen der Regelung sind, desto genauer müssen die Vorgaben des Parlaments sein. Aus diesem Grund muss auf die zusätzlichen Vorschriften der Art. 53 ff. PAG zurückgegriffen werden. Existiert eine parlamentarische Vorgabe darf diese nicht einfach durch die Annahme einer Ermächtigung direkt aus der Standardbefugnis ausgehebelt werden.

c) Bestimmtheitsgebot

Hinzu kommt, dass die Vorschriften der Art. 53 ff. PAG genauere und bestimmtere Vorgaben hinsichtlich der Zwangsanwendung machen. Ziel des Gesetzgebers ist es der Verwaltung klare Handlungsmaßstäbe vorzugeben, die ein willkürliches Handeln der Beamten ausschließen. Des Weiteren muss die Rechtslage für den Betroffenen vorhersehbar und berechenbar sein, was durch weitere Konkretisierungen besser möglich ist.

d) Fazit

Im Hinblick auf den unmittelbaren Verfassungsbezug ist eine Außerachtlassung der Art. 53 ff. PAG, wenn auch nur für einzelne Standardmaßnahmen, in keinem Fall rechtmäßig. Selbst im Fall des Art. 15 PAG, der in Absatz 3 die Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung vorsieht, darf die Zwangsmaßnahme nur nach Maßgabe der Art. 53 ff. PAG erfolgen. Die oben genannten rechtsstaatlichen Gründe lassen auch nur schwerlich eine andere Auffassung als vertretbar erscheinen.

2. Die einzelnen Standardmaßnahmen (zusammengefasst nach dem Ziel der jeweiligen Maßnahme)

a) Die Systematik

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es zwei verschiedene Typen von Standardbefugnissen in den Art. 12 ff. PAG gibt. Einige Vorschriften enthalten eine Verwaltungsaktbefugnis, andere ermöglichen ein tatsächliches Vorgehen.

(1) Das Anhalten (Art. 12 S. 3 PAG), das Festhalten (Art. 13 II 3 PAG), erkennungsdienstliche Maßnahmen (Art. 14 PAG), die Ingewahrsamnahme (Art. 17 PAG), sowie die Durchsuchung (Art. 21, 22 PAG) und die Sicherstellung (Art. 25 PAG) sind Realakte.

Die in Gruppe (1) zusammengefassten Maßnahmen sind tatsächliche Handlungen. Eine Person wird festgehalten, vom Betroffenen werden Fingerabdrücke genommen, die zu schützende Person wird in Gewahrsam genommen oder ein Betroffener bzw. Sachen durchsucht. Es handelt sich damit um Realakte.

(2) Hingegen enthalten folgende Standardmaßnahmen eine Verwaltungsaktbefugnis: die Befragung (Art. 12 PAG), die Aufforderung sich auszuweisen oder einen Berechtigungsschein vorzuzeigen (Art. 13 PAG), die Vorladung (Art. 15 PAG), sowie der Platzverweis (Art. 16 PAG).

All diese Vorschriften geben dem Polizisten die Möglichkeit einen Verwaltungsakt zu erlassen und damit das gewünschte Ziel zu erreichen.

Diese Einordnung ist allerdings nicht unumstritten. Nach Ansicht der Literatur ist in jedem polizeilichen Tätigwerden zugleich eine konkludente Duldungsverfügung („Dulde diese Maßnahme“) enthalten. Durch die Annahme einer konkludenten Duldungsverfügung können damit alle Standardmaßnahmen durchweg als Verwaltungsakte qualifiziert werden. Dem kann aber nicht gefolgt werden, da es widersinnig ist rein tatsächliches Handeln, wie das Durchsuchen einer Person als Verwaltungsakt einzustufen. Schließlich muss der Betroffene zuerst zur Kooperation aufgefordert werden. Erst wenn der Maßnahmeadressat daraufhin noch Widerstand leistet kann an ein zwangsweises Vorgehen gedacht werden.

Die Aufteilung in einerseits Realakte und andererseits Verwaltungsakte relativiert sich aber ohnehin angesichts des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dieser aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz, der im Polizeirecht in Art. 4 PAG verankert ist, besagt, dass Polizisten unter mehreren ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dasjenige auszuwählen haben, das am geringsten in die Rechte des Betroffenen eingreift. Folglich hat der Polizist bevor er bspw. eine Person in Gewahrsam nimmt, dazu aufzufordern freiwillig mit ihm zu kommen. Diese Aufforderung ist verglichen mit jeglicher tatsächlichen Handlung, die die körperliche Integrität des Betroffenen beeinträchtigt, die mildere Vorgehensweise. Bei der Durchsuchung von Sachen wird der Polizist den Betroffenen aufzufordern haben, den Rucksack etc. herauszugeben, bevor er dem Betroffenen den Gegenstand wegnimmt. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass in vielen Fallkonstellationen eine mündliche Aufforderung in Form eines Verwaltungsaktes ergehen wird und auch ergehen muss, der die Vornahme des Realaktes ermöglichen soll.

An dieser Stelle muss nun geklärt werden, ob sich die Aufforderung zu einem bestimmten Tun unmittelbar aus der Standardmaßnahme ergibt oder aus der Generalklausel. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass sich diese Frage nur bei Standardbefugnissen ergibt, die Realakte sind (s.Gruppe (1)). Alle anderen ermächtigen unproblematisch zum Erlass eines Verwaltungsaktes. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, eine dem Realakt vorausgehende mündliche Aufforderung auf die Standardmaßnahme zu stützen. Die Verwaltungsaktbefugnis ist stets als Minus zum tatsächlichen Handeln in jeder Standardmaßnahme, die zum realen Tätigwerden ermächtigt, enthalten. Zudem sind die Art. 12 ff. PAG auf bestimmte, sich häufig wiederholende Polizeimaßnahmen zugeschnitten. Das bedeutet, dass sie speziellere Regelungen enthalten als die allgemein gefasste Generalklausel, die primär nur als Auffangtatbestand dient. Ein Rückgriff von der bestimmteren zur unbestimmteren Norm ist nicht zulässig.

Natürlich muss nicht jedem Realakt eine mündliche Aufforderung vorausgehen. So kann diese aus zeitlichen Gründen bzw. der Dringlichkeit des Eingriffs untunlich sein. Ebenso stellt sich die Lage dar, wenn bspw. ein Herausgabeverlangen zu gefährlich wäre (Sicherstellung einer Waffe). Dies ist eine Frage des Einzelfalls und muss dementsprechend beurteilt werden.

b) Zusammenfassung

Standardmaßnahmen sind in zwei Gruppen aufgeteilt. Einerseits in Realakte und andererseits in Verwaltungsakte. Den Realakten kann ein Verwaltungsakt als mildere Maßnahme vorausgehen, was aber nichts an der grundsätzlichen Einordnung als Realakt ändert. Der Verwaltungsakt soll den Realakt schließlich nur erleichtern bzw. vorbereiten. Dass diese Differenzierung nicht nur reine Förmelei ist zeigt sich auch im Rahmen der Zwangsanwendung.

B. Wann wird Art. 53 I PAG und wann Art. 53 II PAG angewendet?

Art. 53 PAG regelt allgemein die Zulässigkeit von Verwaltungszwang. Absatz 1 deckt die Fallkonstellation ab, in der der Zwangsanwendung ein Verwaltungsakt vorangegangen ist. In Absatz 2 kann unter den dort genannten Voraussetzungen Zwang auch ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden.

I. Anwendbarkeit des Art. 53 I PAG

Art. 53 I PAG enthält die Befugnis einen vorangegangenen Verwaltungsakt mittels Zwang zu vollstrecken. Wichtig hierbei ist, dass es sich um einen Verwaltungsakt der Polizei handeln muss. Eine Parkuhr oder ein Halteverbotsschild sind gerade KEINE Verwaltungsakte der Polizei, sie werden von der Gemeinde oder Stadt nach Maßgabe der StVO aufgestellt.

In den meisten Fällen wird eine Zwangsanwendung über Art. 53 I PAG erfolgen. Wie oben erläutert ist die Anwendung von Zwang immer das äußerste Mittel. Auch die Intensität der Maßnahme muss sich im erforderlichen Rahmen halten. Erst wenn alle milderen, gleich geeigneten Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden kann auf die Art. 53 ff. PAG zurückgegriffen werden. In der polizeilichen Praxis ergeht in vielen Fällen ein Verwaltungsakt, der den Betroffenen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen auffordert. Sodann ist immer der Anwendungsbereich des Art. 53 I PAG eröffnet. Nur in Ausnahmefällen wird auf Art. 53 II PAG zurückzugreifen sein.

II. Anwendbarkeit des Art. 53 II PAG

Art 53 II PAG regelt den Sonderfall des zwangsweisen Handelns ohne vorausgehenden Verwaltungsakt. Bereits an dieser Stelle muss auf das Verhältnis zu Art. 9 PAG eingegangen werden, da sich nur bei richtigem Verständnis der Abgrenzung dieser Normen ein vollumfassendes Gesamtbild der Zwangsanwendung ergibt.

1. Wie stehen die unmittelbare Ausführung gem. Art. 9 I PAG und der sofortige Vollzug gem. Art. 53 II PAG zueinander?

Beide Vorschriften sind auf das Tätigwerden ohne vorausgehenden Verwaltungsakt gerichtet. Grundsätzlich kann damit festgehalten werden, dass der Betroffene abwesend sein muss oder als abwesend gelten muss (Volltrunkenheit/Bewusstlosigkeit).

a) Systematik

Um die beiden Normen in Beziehung zu setzen muss in erster Linie der Wortlaut des Art. 53 II PAG betrachtet werden. Danach darf erst dann auf den Verwaltungszwang zurückgegriffen werden, wenn „Maßnahmen gegen Personen nach den Art. 7 bis 10 nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind“. Aus der Formulierung „bis“ ist zu folgern, dass auch Maßnahmen nach Art. 9 PAG ausgeschlossen sein müssen. Art. 9 PAG ist daher immer vorrangig zu prüfen. Erst wenn auf diese Weise die Herstellung rechtmäßiger Zustände nicht möglich ist, kann Art. 53 II PAG in Betracht gezogen werden. Wird gegen einen Nichtverantwortlichen vorgegangen scheidet Art. 9 PAG als Ermächtigungsgrundlage aus, da der Wortlaut ausdrücklich nur ein Vorgehen gegen die nach Art. 7 und 8 PAG Verantwortlichen zulässt.

b) Inhaltlicher Unterschied

Im Übrigen ähnelt sich der Wortlaut der beiden Vorschriften sehr stark. In beiden Fällen muss ein zügiges Handeln erforderlich sein, da Maßnahmen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind. Welchen Unterschied gibt es aber nun zwischen diesen Vorschriften?

aa) Vertretbarkeit des Handelns

In vielen Lehrbüchern wird nach der Vertretbarkeit der Handlung abgegrenzt. Dieses Argument muss aber verworfen werden, da zum einen vertretbare Handlungen durch eine Ersatzvornahme (Art. 55 PAG) innerhalb des Verwaltungszwangs durchgeführt werden können und Maßnahmen auch im Rahmen des Art. 9 PAG durch die Polizei selbst oder durch einen Beauftragten ausgeführt werden können. Das Instrument der Ersatzvornahme existiert nicht nur im Bereich des Verwaltungszwangs, was schon aus dem Wortlaut des Art. 9 PAG geschlossen werden kann. Zum anderen können unvertretbare Handlungen, wie die Herausgabe eines bestimmten Gegenstandes (die Polizei kann den Gegenstand nur wegnehmen, aber nicht sich selbst herausgeben) durch unmittelbaren Zwang ersetzt werden können.

bb) Der Wille des Betroffenen

Eine Abgrenzung kann demzufolge nur über den Willen des Betroffenen erfolgen. Oftmals wird an dieser Stelle eingewandt, dass dieses Kriterium für eine sinnvolle Abgrenzung viel zu unbestimmt sei, allerdings ist bei genauer Sachverhaltsanalyse eine Zuordnung in der überwiegenden Zahl der Fälle möglich.

Art. 9 I PAG soll all jene Maßnahmen erfassen, die zumindest im mutmaßlichen Willen des Betroffenen stehen. Grundsätzlich kann man sich merken, dass der Staat davon ausgehen muss, dass die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes im Interesse des Betroffenen liegt. Dem Bürger kann aus rechtsstaatlichen Gründen im Zweifelsfall nicht unterstellt werden, dass er sich nicht rechtstreu verhalten hätte, wäre er anwesend gewesen. Allerdings können tatsächliche Gegebenheiten diese Annahme widerlegen.

Folgerichtig ist Art. 53 II PAG auf Maßnahmen gegen den Willen des Störers gerichtet. Dies folgt schon aus dem Charakter als Zwangsvorschrift, da Zwang nie in Betracht kommt, wenn der Störer freiwillig zur Behebung der Beeinträchtigung bereit ist. Art. 53 II PAG erfasst also nur die Fälle in denen ein entgegenstehender Wille ausdrücklich erklärt wurde oder zumindest aus den Umständen erkennbar ist. Ist der Betroffene lediglich nicht erreichbar oder kann er die Gefahr selbst nicht beseitigen, bspw. den Wohnungsbrand löschen, so kann die Polizei die Maßnahme selbst ausführen oder durch einen Beauftragten, im Beispiel die Feuerwehr, ausführen lassen. Art. 9 I PAG überwindet dabei die mangelnde Bekanntgabemöglichkeit.

2. Fallgruppen des Art. 53 II PAG

Im Ergebnis ist also die Anwendung von Zwang nur möglich, wenn der Beamte auf irgendeine Art von Widerstand stößt. Nur dann können Zwangsbefugnisse zur Durchbrechung dieses Widerstandes eingesetzt werden. Art. 53 II PAG enthält eine Aufzählung bestimmter Situationen, die die Notwendigkeit eines zwangsweisen Handelns nach sich ziehen. Das Wort „insbesondere“ weißt wie so oft darauf hin, dass diese Aufzählung nicht abschließend ist. Im Folgenden wird auf die gesetzlich angesprochenen Fälle näher eingegangen.

 (1) Maßnahmen sind gegen den Störer nicht möglich

✱ Fallbeispiel

Polizist P kommt an einer Baustelle vorbei und wird auf eine heftige Rauferei zwischen dem Bauarbeiter B und dem Dritten D aufmerksam. B geht mit einem Schraubenzieher auf D los. Aufgrund des Baulärms ist es P nicht möglich einen Verwaltungsakt gegenüber B zu erlassen. Er muss sofort zugreifen. Hier kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass es im Interesse des vorsätzlich handelnden B ist, von seinem Vorhaben abgebracht zu werden.

(2) Maßnahmen sind nicht rechtzeitig möglich

✱ Fallbeispiel

Die Polizei ertappt A als dieser dem B auf einem öffentlichen Parkplatz seine neu erworbene Waffe demonstriert. A ergreift sofort die Flucht. Da A dicht an Polizeiwachtmeister P vorbeirennt, packt P den A geistesgegenwärtig am Arm, wodurch er A zu Boden reißt. Hier leistet A den Maßnahmen der Polizei aktiv Widerstand. Zudem hat der Beamte nicht mehr genügend Zeit einen Verwaltungsakt gegenüber dem Betroffenen zu erlassen.

 (3) Maßnahmen versprechen keinen Erfolg

✱ Fallbeispiel

Demonstrant D hat sich von seinen Greenpeace-Freunden an die Bahngleise ketten lassen um den Castortransport zu stoppen. Ohne schweres Gerät sind die Ketten nicht mehr zu lockern. Ein Platzverweis würde in dieser Situation keinen Erfolg versprechen. Aus der Situation kann auf den Widerstand des D hinsichtlich der Polizeimaßnahmen geschlossen werden.

In all diesen Situationen ist ein sofortiges Einschreiten geboten, das keine Zeit lässt zunächst einen Verwaltungsakt zu erlassen. In diesen Eilfällen ist auch eine Androhung des Zwangsmittels ausnahmsweise nicht erforderlich.

III. Anwendbarkeit des Art. 9 I PAG

Aus oben gesagtem ergibt sich, dass die unmittelbare Ausführung nur in Frage kommt, wenn sie im mutmaßlichen Willen bzw. in seinem Interesse liegt. Dies kann insbesondere in folgenden Fallkonstellationen angenommen werden.

1. Fallgruppen des Art. 9 I PAG

(1) Der Erlass eines VA ist aus tatsächlichen Gründen unmöglich

✱ Fallbeispiel

Die Polizei erhält verlässliche Hinweise, dass sich in einem Papierkorb eine Bombe mit Kontaktzünder befindet. Wird ein weiterer Gegenstand hineingeworfen explodiert die Bombe. Spaziergänger A ist im Begriff eine leere Flasche in eben diesen Papierkorb zu werfen, als Polizist P den A mit einem Hechtsprung zu Boden wirft um eine Explosion zu verhindern. Der Erlass eines Verwaltungsaktes wäre auch in diesem Beispiel nicht mehr rechtzeitig möglich gewesen. Das Eingreifen des Polizisten liegt aber im mutmaßlichen Willen des Betroffenen, da mit dem Eingreifen des Polizisten dessen Leben gerettet wurde.

(2) Der Betroffene ist nicht erreichbar

✱ Fallbeispiel

Die Polizei findet ein aufgebrochenes Auto auf einem öffentlichen Parkplatz. Der Betroffene ist weder an seinem Wohnsitz, noch telefonisch oder auf sonstige Weise zu erreichen. Um weitere Plünderungen zu verhindern lässt die Polizei das Fahrzeug unverzüglich auf einen Verwahrplatz bringen. Hier ist das Abschleppen im Interesse des Betroffenen, da sein Fahrzeug vor weiteren Schäden geschützt wird.

(3) Der Betroffene kann die Gefahr selbst nicht beseitigen

✱ Fallbeispiel

A gerät mit seinem Gefahrguttransporter in einen Unfall. Er wird schwerstverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Währenddessen laufen giftige Substanzen aus dem Transporter, wodurch schwere Schädigungen des Erdreichs zu befürchten sind. Die Polizei kann in diesen Fällen alles zur Gefahrenbeseitigung Nötige veranlassen. Dies entspricht auch dem mutmaßlichen Willen des A.

2. Ergebnis

Mithilfe der Einteilung in obige Fallgruppen ist eine Zuordnung zu Art. 53 oder Art. 9 PAG in der überwiegenden Zahl der Fälle möglich. Sicherlich gibt es auch Fallgestaltungen, die nicht eine der genannten Gruppen zugeordnet werden können. Dennoch dienen die Abgrenzungskriterien als verlässliche Argumentationshilfen.

C. Anmerkungen

Zur Ergänzung siehe auch die in den Kategorien Öffentliches Recht Bayern sowie Öffentliches Recht veröffentlichten Beiträge.

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